Zur Zukunft der Psychiatrie

Die letzte Jahrestagung der ÖGPP in Gmunden war dem Thema „Zukunft der Psychiatrie“ gewidmet. Dabei wurden die mannigfachen wissenschaftlichen und klinischen Möglichkeiten, nicht nur die in den letzten Jahren vordergründig genutzten, sondern auch jene, die sich heute durchaus zu Unrecht in den Hintergrund gedrängt finden bzw. jene ganz verschütteten, gemeinsam mit denen, die noch zu eröffnen bzw. zu schaffen wären, diskutiert.

Seit ihrem Beginn befindet sich die Psychiatrie als medizinische Forschungs- und Behandlungsdisziplin am Schnittpunkt von Natur- und Humanwissenschaften; auch dann, wenn sich einige ihrer Protagonisten der damit verbundenen Chancen und Pflichten nicht in vollem Maße bewusst sind und einfach nur für die eine oder andere votieren. Ohne Zweifel konnten in verschiedenen Teildisziplinen der Psychiatrie, seien es nun die eher naturwissenschaftlich ausgerichteten oder die auf humanwissenschaftlichen Erkenntnissen aufbauenden, enorme Fortschritte erzielt werden: Die Erfolge der sogenannten biologischen Psychiatrie, die die letzten drei Jahrzehnte das Bild der gesamten Psychiatrie ganz wesentlich prägten – wie z. B. Neurotransmitter- oder Neuroimaging-Forschung – sind eindrucksvolle Zeugnisse hierfür. Aber auch die Neuentwicklungen auf den Gebieten der Psychotherapie und Sozialpsychiatrie können sich durchaus sehen lassen. Sie alle blieben aber Stückwerk, da es bisher leider noch nicht gelang, eine allumfassende Integration der unterschiedlichen Ansätze und Vorgangsweisen zu erzielen.

Gefahr einer Dehumanisierung

Schon allein bei der Frage nach dem Gegenstand der Psychiatrie scheiden sich die Geister. Wer oder was ist nun unser Gegenstand? Was ist unser Hauptfokus? Was ist unser Thema? Das Gehirn und seine Funktionsveränderungen, sagen die einen, die Seele und ihre schier unbegrenzten Erscheinungsformen, sagen die anderen. Die erstgenannten – treffenderweise als „Phreniker“ bezeichnet – sind sich auf den Urvater der sogenannten biologischen Psychiatrie Wilhelm Griesinger berufend, ganz davon überzeugt, dass psychische Erkrankungen Hirnkrankheiten sind. Eine Position von der aus der Psychiater nur allzu leicht zum Internisten des Gehirns reduziert wird. Die anderen – die Psychiker – behaupten die Existenz einer Seele, die zwar prozesshaft interpretiert, im Letzten aber als funktionierend Gegenständliches, als zu und sich verändernder „Apparatus psychicus“ gedacht wird. Auch diese Reduktion birgt die Gefahr der Dehumanisierung in sich, zumal hier der Körper, wenn überhaupt, so vorzugsweise als Gegenstück bzw. Appendix der Seele (dann nicht selten Spiegel der Seele genannt), als „res extensa“ oder aber einfach nur als leidbringendes „Es“ angesehen wird. Manche orten als Hauptthematik der Psychiatrie das soziale (Über-)Leben von psychisch Kranken. So wichtig auch das Miteinbeziehen sozialer Aspekte in die Behandlung von psychisch Kranken ist, auch eine Psychiatrie, die ausschließlich auf Soziales fokussiert, verliert in sich den Menschen als Ganzes.

Daran ändert auch eine heute so weit verbreitete eklektische Melange all dieser Positionen im sogenannten „biopsychosozialen Ansatz“ nichts: Auch hier wird der Mensch in einem Parallelweltensystem in körperliche, psychische und soziale Teilfunktionen separiert. Der Mensch, der Gesunde und der Kranke, ist aber in jedem Fall mehr als nur die Summe einiger seiner Teilbereiche, ganz so wie das Ganze immer mehr ist als die Summe seiner Einzelteile. Eine Banalität von ungeheurer klinischer Wirkung.

Der ganze Mensch in seiner Werdensgeschichte

In der klinischen Praxis ist es nämlich nicht ein Gehirn, nicht eine Seele, nicht ein sozial Gegebenes und auch nicht eine „biopsychosoziale Funktionseinheit“, der wir gegenüber stehen bzw. sitzen, sondern es ist ein an einer psychischen Krankheit leidender Mensch; ein ganzer Mensch also, der an einer Krankheit leidet, die sich vorzugsweise in psychopathologischen Phänomenen entäußert. „Unser Thema ist der ganze Mensch in seinem Kranksein, soweit es seelisches und seelisch bedingtes Kranksein ist … Unser Thema ist der Mensch … “, sagt Karl Jaspers in seinem Jahrhundertwerk „Allgemeine Psychopathologie“ 1913 und kritisiert damit die damals schon in der Psychiatrie ansässigen und ihr Territorium verbissen verteidigenden Phreniker und Psychiker.

Auch Adolf Meyer, der von vielen als Vater der amerikanischen Psychiatrie gesehen wird, betont den Menschen in seiner Ganzheit als zentralen Forschungs- und Behandlungsfokus, wenn er Mitte des vorigen Jahrhunderts schreibt: „We study behavior not merely as a function of the mind and of various parts of the body, but as a function of the individual, and by that we mean the living organism, not a mysterious entity … We study facts (a fact is anything which makes a difference) for what they mean in actual life, and by that we mean the life of a ,somebody‘. He is to us an organism with a life history, a biography. “ Diesen Gedanken nimmt Christian Scharfetter dann im ausklingenden 20. Jahrhundert mit seinem richtungsbestimmenden Satz: „Gegenstand der Psychiatrie ist jeweils ein ganzer Mensch in seiner Werdensgeschichte“ wieder auf.

Ressourcen und Lebensquellen frei legen

Es ist nun hoch an der Zeit, den Aufrufen dieser Großen der Psychiatrie endlich Folge zu leisten und sich der unumgänglichen Aufgabe einer umfassenden Integration der von den verschiedenen psychiatrischen Teildisziplinen geschaffenen Stückwerke zu stellen. Es gilt ganz im Sinne Viktor von Weizsäckers eine „vom Menschen zum Menschen gerichtete Medizin“ zu schaffen, die sich „die Ermöglichung der Bestimmung des Menschen“ zum wesentlichen Therapieziel macht. Eine solche Psychiatrie, die die Bezeichnung human-basierte Psychiatrie verdient, darf sich aber nicht mehr nur auf die Defizienzen bzw. Funktionsstörungen des Kranken ausrichten, sondern sie muss auch die Ressourcen des Einzelnen in den diagnostischen und therapeutischen Prozess miteinbeziehen.

Krankheit gilt dann „weniger als Defekt an einem Mechanismus, denn als Antwort eines lebendigen Systems auf die vielfältigen Herausforderungen der Lebenswelt“, wie es H. Schipperges in seinem 2001 erschienenen Buch zur Leiblichkeit so treffend ausdrückte. Gesundheit zeigt sich dann auch nicht nur als Abwesenheit von Krankheit, sondern (ganz im Sinne der Forderungen der WHO) als umfassendes Wohlsein des Menschen in seiner Lebenswelt. Der Mensch ist dabei nicht nur durch seine Eigenschaften und Funktionsbereiche zu charakterisierendes gegenwärtiges Sein, sondern ganz wesentlich auch Zukunft ermöglichendes Werden. Das zentrale Behandlungsziel kann dann nicht mehr nur das Verschwinden von Krankheitszeichen, sondern muss ein (Wieder-)Ermöglichen eines gesunden Lebens sein. Gesundheit und gesundes Leben sind dann auch nicht mehr auf körperliche, psychische und soziale Funktionstüchtigkeit zu reduzieren, sondern treten für den Einzelnen in Form der Ermöglichung eines möglichst autonom geführten und möglichst freudvoll erlebten Lebens in Erscheinung.

In einer solchen zukunftsgerichteten, integrativen human-basierten Psychiatrie geht es dann nicht mehr nur um psychische Krankheiten oder wie z. B. in dieser Ausgabe als Hauptthema nicht mehr nur um organische Psychosen; es geht nicht mehr nur um hirnorganische Defekte, sondern um Menschen mit hirnorganisch bedingten Erkrankungen und all den damit verbundenen Unmöglichkeiten und Möglichkeiten. Auch bei diesen oft über lange Zeitstrecken schwerkranken Menschen (mehr noch: gerade bei ihnen) genügt es nicht, nur auf Funktionsstörungen zu fokussieren, auch bei ihnen und ganz speziell bei ihnen gilt es, Ressourcen und Lebensquellen freizulegen, die ihnen dann zumindest ein Mindestmaß an gelebter Autonomie und erlebter Freude ermöglichen. In diesem Sinne wünsche ich ihnen eine anregende und ermöglichende Lektüre.