Störungen der Thrombozytenfunktion

Thrombozyten spielen beim Ablauf der Blutstillung und bei thromboembolischen Erkrankungen eine entscheidende Rolle. In den vergangenen etwa 10 Jahren wurden weitere Funktionen der Blutplättchen entdeckt. Sie tragen wesentlich zum Ablauf entzündlicher Prozesse bei, sind bei der Ausbreitung von Viren im Körper verantwortlich und steuern das Fortschreiten und die Metastasierung maligner Erkrankungen. In der vorliegenden Übersicht wird ausschließlich auf die “hämostaseologische” Rolle der Thrombozyten eingegangen, wobei dem Leser bewusst sein soll, dass die erwähnten anderen Funktionen der Thrombozyten nicht davon isoliert zu sehen sind. Mit anderen Worten, Thrombozyten bewirken ein Zusammenspiel von Entzündung und Thrombose, von Virusausbreitung und Inflammation, von Tumorwachstum mit Inflammation und Thrombosen oder Blutungen.

Erfassen der Blutungsneigung: Die Thrombozytenfunktion kann vermindert oder gesteigert sein. Eine Beeinträchtigung der Thrombozytenfunktion ist bei Menschen, die eine vermehrte Blutungsneigung angeben, nicht selten. Die familiäre Anamnese und die Patientenanamnese sind wesentlich für die Diagnostik der Blutungsneigung. Sollte darüber hinaus der klinische Status auf das Vorliegen einer thrombozytären Blutungsneigung hinweisen, empfiehlt es sich an Hand von Laboruntersuchungen die Funktionseinschränkung der Thrombozyten ex vivo zu bestätigen und zu charakterisieren, um dadurch möglicherweise eine Diagnose zu erstellen. Unterschiedliche Fragebögen sind zur Erfassung der Blutungsneigung und des klinischen Status entworfen worden, wobei das Gesamtbild in einem Punktesystem ausgewertet wird. Leider steht bisher mit keinem dieser systematischen Befragungsbögen und mit keiner Dokumentation der klinischen Untersuchung ein sicheres System zur Erfassung von Blutungsneigungen zur Verfügung.

Tab.: Verminderte Funktion der Thrombozyten mit bekanntem Erbgang

Syndrom

Erbgang

Charakteristika, assoziierte Abnormitäten

Bernard-Soulier-Syndrom

ar

große Thrombozyten, defekte Adhäsion, Thrombozytopenie

Thrombozytentyp des vWS

ad

vergrößerte Plättchen, defekte Adhäsion

vWS IIB

ad

vergrößerte Plättchen, defekte Adhäsion, Thrombozytopenie

ADP-P2Y12-Rezeptor-Mutationen

ar

Bild wie bei medikamentöser ADP-Rezeptorblockade

Gray-Platelet-Syndrome

ar

vergrößerte Plättchen ohne α-Granula; Myelofibrose

Quebec Platelet Syndrom

ad

“Non-Response” auf Epinephrin

Hermansky-Pudlak-Syndrom

ar

okulokutaner Albinismus, Kolitis, Lungenfibrose

Chediak-Higashi-Syndrom

ar

okulokutaner Albinismus, silbrig-blondes Haar, Hepatosplenomegalie, eitrige Infektionen der Haut und der Atemwege

Griselli-Syndrom

X-chrom?

Hämophagozytose

Wiskott-Aldrich-Syndrom

X-chrom

kleine Thrombozyten, Immundefekt, Autoimmun-Erkrankungen

Glanzmann-Thrombasthenie

ar

durch Tansfusionen Bildung von Iso-Antikörpern (Levy-Toledano)

Paris-Trousseau/Jakobsen-Syndrom

ad

Riesen-α-Granula, Funktionsversagen unterschiedlicher Organe

X-chromosomale familiäre dyserythropoetische Anämie mit Thrombozytopenie

X-chrom

Anämie unterschiedlichen Ausmaßes

TAR

ar

fehlender oder verkürzter Radius

MYH9-Anomalien

ad

Nephritis, Schwerhörigkeit, Katarakt; Riesenthrombozyten

ar = autosomal rezessiv; ad = autosomal dominant; X-chrom = X-chromosomal; VWS = Von-Willebrand-Syndrom

Hereditäre Thrombozytenfunktionsstörung: Die Häufigkeit einer verminderten Funktion der Thrombozyten (Thrombozytopathien) in der allgemeinen Bevölkerung ist nicht bekannt. Auf Grund systematischer Untersuchungen bei Menschen mit Blutungsneigung kann man aber eine Prävalenz annehmen, die jener des Von-Willebrand-Syndroms entspricht. Angeborene Funktionsstörungen sind selten, die meisten sogar sehr selten (1 Familie pro 1 Million Einwohner oder noch seltener). Die angeborenen, hereditären Funktionsstörungen manifestieren sich typischerweise in jungen Jahren, wenn auch manche Thrombozytopathien (vor allem Makrothrombozytopenien im Rahmen der MYH9-assoziierten Bildungsstörungen) erst im Erwachsenenalter bemerkt werden. Letztere sind zumeist mit relativ geringer Blutungsneigung assoziiert. Für die Diagnose der angeborenen Thrombozytopathien ist die Familienanamnese oft entscheidend. Im Textkasten sind diese angeborenen hereditären Erkrankungen und deren Vererbungsmodus angeführt.

Erworbene Formen: Erworbene Funktionsstörungen der Thrombozyten finden sich im Rahmen zahlreicher Erkrankungen, können im Rahmen unterschiedlicher medikamentöser Therapien als unerwünschte Wirkungen auftreten oder auch gezielt medikamentös induziert sein, um einen therapeutischen Effekt zu erzielen. Eine gesteigerte Bereitschaft zur Aggregation der Thrombozyten findet sich bei Diabetikern, eine verminderte Funktion wird beispielsweise bei Patienten in chronischer Dialysebehandlung beobachtet. Antibiotika, intravenös verabreichte Nährlösungen, Antidepressiva und viele andere Medikamente können die Funktion der Thrombozyten beeinträchtigen. Manche dieser Medikamente können auch gleichzeitig zu einer Thrombozytopenie führen. Therapeutisch wird die gezielte Hemmung der Funktion eingesetzt, um vor arteriellen thromboembolischen Ereignissen vorzubeugen. Das seit vielen Jahren zu diesem Zwecke eingesetzte Medikament ist Aspirin (irreversible Hemmung der Cyclooxygenasen COX-1 und COX-2) häufig in Kombination mit Thienopyridinen (Clopidogrel, Prasugrel). Andere Thrombozytenhemmer werden wohl in den nächsten Jahren in klinischen Prüfungen getestet werden und dann therapeutisch zur Verfügung stehen. Wie bei den hereditären Thrombozytopathien ist die Anamnese das wichtigste Instrument, um eine erworbene Funktionsstörung zu charakterisieren und einer definitiven Diagnose mit möglichen therapeutischen Konsequenzen zuzuführen.
Die ausführliche Erhebung der Familien- und Individualanamnese und der aktuellen Blutungsneigung anhand des Status müssen durch labortechnische Untersuchungen ergänzt werden. Dafür sind Untersuchungen mit Hilfe der Durchflusszytometrie und der turbidimetrischen Aggregometrie unerlässlich. Diese müssen oftmals wiederholt werden, um zu einer Diagnose zu kommen.

Univ.-Prof. Dr. Simon Panzer
Universitätsklinik für Blutgruppenserologie und Transfusionsmedizin, Medizinische Universität Wien

Angeborene Störungen der Thrombozytenfunktion mit Blutungsneigung

Adhäsionsdefekte

Bernard-Soulier-Syndrom (BSS)

Dieses Syndrom ist durch verminderte Adhäsion, Thrombozytopenie und große Thrombozyten charakterisiert. Da diese Merkmale auch bei Immunthrombozytopenien (ITP) zu finden sind, wurden wiederholt Patienten mit BSS mit der Diagnose einer chronischen ITP irrtümlich splenektomiert. Eine eingehende Familienanamnese hätte dies verhindert. Es liegen qualitative und/oder quantitative Defekte des Glykoprotein-Ib-iX-V-Komplexes vor, wodurch die Adhäsion an subendothelialen Von-Willebrand-Faktor (vWF)vermindert ist.

Thrombozytentyp des Von-Willebrand-Syndroms

Hier liegt eine vermehrte Bindung von vWF an GP Ib vor. In vitro kann durch minimalen Zusatz von Ristocetin eine Aggregation hervorgerufen werden. Eine geringgradige Thrombozytopenie, beschleunigter Abbau des vWF und ein blockierter GP-Ib-Komplex charakterisieren diese Funktionsstörung, die zu Blutungsneigung führt.

Von-Willebrand-Syndrom Typ 2B

Häufig liegt eine Makrothrombozytopenie vor, welche auf eine Reifungsstörung der Megakaryopoese schließen lässt. Der VWF weist strukturelle Abnormitäten auf.

Angeborene Varianten der Agonistenspezifischen Rezeptoren und der Signaltransduktion

Beeinträchtigung der Kollagenrezeptoren-Funktion

Thrombozyten exprimieren zwei wesentlich Kollagenrezeptoren, α2β1 und Glykoprotein (GP) VI. Mutationen oder Antikörper-induzierte Spaltung dieser Rezeptoren kann zu Blutungsneigung führen.

ADP- und ATP-Rezeptoren

Thrombozyten haben zwei Rezeptoren für ADP, P2Y1 und P2Y12, wobei die Blockade des letzteren die medikamentöse Wirkung von Clopidogrel und Prasugrel bewirkt. Es sind einige wenige Patienten mit Mutationen in der kodierenden Region für P2Y12 beschrieben, aber keine Patienten mit P2Y1-Mutationen. P2X1 ist ein ATP-Rezeptor und eine Patientin mit Blutungen und einer Genmutation ist beschrieben.

Funktionelle Veränderungen anderer Rzeptoren: Gehäuft findet sich eine verminderte oder sogar fehlende Plättchenstimulation mit Adrenalin. Es können Mutationen des Rezeptors oder auch komplexe Interaktionen mit anderen pathologischen Strukturen zu einem verminderten Ansprechen auf Adrenalin führen.

Abnormitäten innerhalb der intrazellulären Signaltransduktion und Enzymdefekte

Einige Patienten mit solchen Abnormitäten der Signaltransduktion sind bereits beschrieben worden, und die Variabilität solcher Veränderungen ist wahrscheinlich sehr groß. Bei den beschriebenen Patienten war die Blutungsneigung nicht allzu ausgeprägt. Unterschiedliche Enzymdefekte, z. B. jene der Cyclooxygenase 1 oder Synthetase 1, sind beschrieben. Die Ergebnisse der Funktionsanalysen sind jener einer “Storage Pool Disease” oder bei Aspirineinnahme ähnlich.

Defekte Sekretion (Storage Pool Disease, SPD)

Die Proteine in den α-Granula werden entweder von den Megakaryozyten synthetisiert oder aus dem Plasma aufgenommen. Zu letzteren zählen Faktor V, Fibrinogen, vWF. Fehlen diese (z. B. bei Faktor-V-Mangel), so finden sie sich auch nicht in α-Granula.

Erkrankungen, die ausschließlich Proteine der α-Granula betreffen

Grey Platelet Syndrome: Eine milde Blutungsneigung, etwas vergrößerte Thrombozyten von mäßig verminderter Anzahl sowie ein frühzeitiges Einsetzen einer Myelofibrose charakterisieren das GPS. Die α-Granula und deren Inhalte fehlen.

Quebec’sche Thrombozyten-Anomalie: Ob wohl die α-Granula vorhanden sind, wird deren Inhalt vermehrt proteolytisch abgebaut. Interessanterweise können diese Patienten mit Inhibitoren der Fibrinolyse sehr gut behandelt werden: Dieser Umstand verweist darauf, dass die Plättchen dieser Patienten eine große Menge von Plasminogen-Aktivator des Urokinase-Typs aufweisen.

ARC-Syndrom: Diese Multisystemerkrankung (ARC für Arthrogrypose – renale Dysfunktion – Ch lestase) wird in den ersten Lebensjahren manifest. Die Konzentration der α-Granula und deren Inhalt sind vermindert und es finden sich Nierenschäden und andere Organfunktionsschäden.

Defekte der δ-Granula

In den δ-Granula werden die Nukleotide ADP und ATP gespeichert. Liegen Defekte der δ-Granula gemeinsam mit anderen abnormen lysosomalen Organellen vor, kommt es zu gut erkennbaren Erkrankungen, nämlich dem Hermansky-Pudlak-, Chediak-Higashi- und dem Griselli-Syndrom. Pigmentierungsveränderungen von Haut und Haaren sind dabei richtungsweisend.

Hermansky-Pudlak-Syndrom: Diese in Puerto Rico nicht seltene Erkrankung ist durch einen Albinismus, Kolitis und manchmal Lungenfibrose gekennzeichnet.

Chediak-Higashi-Syndrom: Blutungen, ausgeprägte immunologische Defekte und – in jenen Fällen, die das Erwachsenenalter erreichen – eine progressive neurologische Erkrankung liegen hier vor. Der immunologische Defekt führt in etwa 90% der betroffenen Patienten zu lymphoproliferativen Erkrankungen. Rieseneinschlusskörperchen in Zellen, die Granula enthalten, einschließlich der Thrombozyten, sind typisch für die Erkrankung.

Griselli-Syndrom: Albinismus und silberfarbene Haare kennzeichnen die Patienten. Das Bestehen eines hämophagozytären Syndroms ist letztlich häufig die Todesursache.

Wiskott-Aldrich-Syndrom (WAS): Charakteristika dieser X-chromosomal-rezessiven Erkrankung sind Infektionen durch einen Immundefekt, häufig vergesellschaftet mit Autoimmunerkrankungen oder Malignomen. Die Thrombozyten sind sehr klein, da eine Reifungsstörung vorliegt. Es kann eine Neutropenie vorliegen, da die Myelopoese gestört ist. Die allererste Knochenmarktransplantation war an einem Kind mit WAS durchgeführt worden und führte zu einer lange andauernden Heilung.

Glanzmann-Thrombasthenie (GT)

Aktivierte Thrombozyten binden Adhäsionsproteine an das Integrin αIIβ3 (Glykoprotein IIb/IIIa). Die Vernetzung dieser Proteine bewirkt die Thrombozytenaggregation. Fibrinogen, vWF, Fibronectin, Vitronectin und CD40L sind die wesentlichen Proteine, die an αIIβ3 binden. Auf Grund unterschiedlicher Mutationen bleibt die Funktion dieses Integrins aus, es besteht eine ausgeprägte Blutungsneigung. Charakteristischerweise bleibt in vitro die Aggregation mit allen Agonisten aus. Die unterschiedlichen Variationen der GT haben entscheidend zum Verständnis der Thrombozytenfunktion in der Hämostaseologie beigetragen – und damit zur Entwicklung von “Thrombozytenhemmern”. Leider sind Patienten mit GT aber nicht gegen die Entwicklung einer Atherosklerose gefeit. Weiters konnte gezeigt werden, dass Autoantikörper, die gegen αIIβ3 gerichtet sind, zu einem GT-ähnlichen Bild führen, man spricht dann von einer “erworbenen GT”.
Patienten mit GT erhalten zur Blutstillung gehäuft Thrombozytenkonzentrate. Da ihre eigenen Thrombozyten manche Epitope des αIIβ3-Integrins nicht exprimieren, die Thrombozyten gesunder Spender aufweisen, kann es zur Antikörperbildung gegen die Plättchen gesunder Spender kommen. Diese Isoantikörper können den Erfolg weiterer Transfusionen von Thrombozyten deutlich einschränken. Daher soll die Gabe von Thrombozyten bei Patienten mit GT möglichst gering gehalten werden; eventuell kann mit der Gabe von NovoSeven® eine Blutung verhindert oder zumindest die Verabreichung von Thrombozytenkonzentraten reduziert werden.

Scott-Syndrom

Die Bildung von Fibrin während Scherkraftinduzierter Adhäsion ist gestört. Diese Thrombozyten können Phosphatidylserin nicht an die Membranoberfläche bringen, wodurch Faktor Va und Xa nicht binden können. Als Folge wird zu wenig Prothrombin in Thrombin umgewandelt, wodurch eine Blutungsneigung besteht.

So genannte “familiäre Thrombozytopenien” (FT)

Die FT umfasst eine heterogene Gruppe von Syndromen, deren Gemeinsamkeit eine Verminderung der Plättchenproduktion ist.

Paris-Trousseau/Jakobsen-Syndrom: Die Thrombozyten sind stark vergrößert und weisen sehr große α-Ganula auf. Herzdefekte und mentale Retardation kennzeichnen dieses Syndrom.

X-chromosomale familiäre dyserythropoeische Anämie mit Thrombozytopenie: Große Plättchen, die mit Kollagen schwach zur Aggregation zu stimulieren sind, charakterisieren dieses Syndrom. Die Erythrozyten weisen keine normale Struktur auf. Die Erkrankung ist auf Mutationen von GATA-1 zurückzuführen, wobei solche Mutationen auch mit akuter myeloischer Leukämie bei Down-Syndrom assoziiert sind.
Monoallelische Mutationen im kodierenden Gen des hämatopoetischen Transkriptionsfaktors RUNXI bedingen FT mit einer Veranlagung zur akuten myeloischen Leukämie. Die Megakaryozytenreifung ist gestört.

Defekte bei der Megakaryopoese

Amegakaryozytäre Thrombozytopenie (CAMT): Die bei Geburt bestehende Thrombozytopenie wird bald zu einer Panzytopenie. Es bestehen Mutationen innerhalb des Genes für den Thrombopoetin-Rezeptor c-MPL.

Thrombozytopenie mit fehlendem Radius (TAR-Syndrom): Die Osteodysgenese der Unterarme ist für dieses Syndrom namensgebend.

Defekte des Zytoskeletts (MYH9-Anomalien): Die schwere Kette IIA des Myosins ist betroffen, und alle Syndrome werden als MYH9-Anomalien zusammengefasst. Die Thrombozyten sind sehr groß, mit fortschreitender Erkrankung besteht gehäuft eine Nephritis, Schwerhörigkeit und Katarakt.
Die bekanntesten Syndrome sind May-Hegglin, Fechtner, Sebastian und Epstein. Die Blutungsneigung ist eher gering (abhängig von der individuellen, oft schwankenden Thrombozytenzahl) und eine perioperative Behandlung mit DDAVP (Minirin) ist zumeist ausreichend.