Vom Lebens-Künstler zum Alters-Künstler – Erkenntnisse aus der Altersforschung

Die Generation der Baby-Boomer muss sich mit neuen Konzepten des Alterns auseinandersetzen, denn sie sind nicht nur ein Problem, sie haben auch eines. Das ist die launige, aber durchaus ernst gemeinte Quintessenz eines Vortrags* von Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz Kolland, dem Leiter der Forschungsgruppe Alter des Instituts für Soziologie der Universität Wien.

Wann ist man „alt“?

Wie Kolland pointiert aufzeigte, wird der Begriff des Alters durchaus sehr unterschiedlich definiert: „Sind Menschen alt, wenn sie die durchschnittliche Lebenserwartung erreicht haben, also in Österreich Männer mit 77,7 Jahren und Frauen mit 83,2 Jahren? Oder wenn sie unter das Bundesseniorengesetz fallen?“ Im zweiten Fall wären Frauen bereits mit 55 Jahren alt und Männer mit 60 Jahren. Noch früher gilt man für den Arbeitsmarkt als alt – nämlich bereits mit 40 Jahren.
Gemäß Eurobarometer 2012 hält ein Drittel der Bevölkerung Menschen über einem Alter von 70 Jahren für alt, ein Viertel bereits ab dem 60. Lebensjahr. Umgekehrt fühlt sich selbst im höheren und hohen Alter rund die Hälfte der Menschen jünger als sie sind.

Weg vom Defizitmodell des Alterns

Generell habe unsere Gesellschaft ein ungünstiges Bild vom Alter, hielt Kolland kritisch fest: „Es besteht eine sehr starke Jugendorientierung, aber keine Altersorientierung.“ Die Beschäftigung mit dem Thema des Alterns beginne früh: „Durchschnittlich wird schon mit 36 Jahren über das Alter nachgedacht. Österreicherinnen und Österreichern kennen das Datum ihrer Pensionierung besser als ihren Hochzeitstag.“
Lange Zeit ging man von einem Defizitmodell des Alterns aus, das von einem generellen Abbau von Fähigkeiten und Fertigkeiten gekennzeichnet ist. Man erachtete Defizite als unvermeidbar und bestenfalls reparabel. Dabei ist gesichert, dass wir viel dazu beitragen können, gesund zu altern, und dass Interventionen bis hin zum Krafttraining auch älteren Menschen nützen.
Das Defizitmodell spiegle sich, so Kolland, auch in den Medien wider. Hauptmotiv für das Alter ist das Bild alter Menschen auf der Parkbank, sagte Kolland. Lediglich die Großelternrolle sei positiv besetzt.

Bei gleicher Genetik 4 Lebensjahre mehr

Alter ist aber nicht gleich Alter. Zwillingsstudien zeigen ganz klar, wie stark der Lebensstil sowohl die Lebenserwartung und auch die Lebensqualität der letzten Lebensjahre beeinflusst. Der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen eineiigen Zwillingen beträgt bis zu vier Jahre. Und während ein hochbetagter eineiiger Zwilling ein körperlich und geistig noch sehr aktives und unabhängiges Leben führen kann, ist der Konterpart möglicherweise bereits in hohem Maße pflegebedürftig. Neben dem Verzicht auf Tabakrauchen verlängern Freizeitaktivitäten, Kontakt mit Freunden und Zufriedenheit die Lebenserwartung auch noch im hohen Alter um mehrere Jahre. Ohne soziale Integration ist das Mortalitätsrisiko deutlich erhöht.
Die Analysen von Oeppen und Vaupel aus dem Jahr 2002 zeigen, dass die Lebenserwartung seit dem Jahr 1840 linear ansteigt. Dazu trugen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders der Rückgang der Säuglingssterblichkeit wie auch verbesserte Hygiene und Ernährung bei, während der Zuwachs in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem auf medizinische Errungenschaften zurückzuführen war, die sich auf das mittlere und höhere Lebensalter auswirkten. Abb. 1 zeigt den deutlich steigenden Anteil der über 80-Jährigen seit dem Jahr 1950.

 

 

Vaupel geht davon aus, dass die Lebenserwartung in unseren Breiten zu Ende dieses Jahrhunderts bei über 100 Jahren liegen wird. Frauen werden diese magische Marke zuerst überschreiten. Ein Grund für die geringere Lebenserwartung von Männern dürfte in ihrem risikoreicheren Verhalten liegen, wie auch die Statistik der Verkehrstoten zeigt. Besonders in der Gruppe der 50- bis 65-Jährigen liege die Sterblichkeit der Männer deutlich über jener der Frauen, so Kolland: „Männer, die diesen Lebensabschnitt überleben, werden ebenfalls alt.“ Ein interessantes Detail am Rande: Männer in Klöstern habe eine um 4 Jahre höhere Lebenserwartung als ihre Geschlechtsgenossen außerhalb der Klostermauern (Luy 2006).

Kein Problem, sondern eine Herausforderung

Eine der großen Fragestellungen der nächsten Jahre wird der Umgang mit den alternden Baby-Boomern sein. Sie haben eine für das Jahr 2050 prognostizierte Lebenserwartung von über 95 Jahren. Daraus ergibt sich ein zunehmender Anteil von Hochaltrigen mit höherem Pflegeaufwand. Gleichzeitig mit der steigenden Lebenserwartung sinkt die Geburtenrate. Sie liegt derzeit bei 1,4 Kindern pro Paar. Diese Demografie bezeichnete Kolland als „apokalyptisch“, denn „die Post-Boomer sind eine sehr kleine Gruppe, die für die Pensionen aufkommen und auch für Pflege zur Verfügung stehen werden“. Sein Appell: „Wir sollten diese Entwicklung aber nicht als Problem, sondern als Herausforderung sehen.“

Die Langlebigkeitsdividende

Demografisch wird Hochaltrigkeit als jenes Lebensalter definiert, in welchem die Hälfte der Angehörigen eines Jahrgangs verstorben ist. Analysen der Langlebigkeit deuten darauf hin, dass die demografische Alterung gesellschaftlich weitgehend durch eine soziokulturelle Verjüngung älterer Menschen kompensiert wird. Der demografische Wandel stimuliert höhere Bildung und höhere Investitionen in die Gesundheit. Dies schaffe, so Kolland, Potenziale für alle Gesellschaftsbereiche, von der Erwerbsarbeit über die Freiwilligenarbeit, die Pflegearbeit und für Autoproduktivität.
Ökonomischer Wohlstand und Geburtenrate sind nicht linear und irreversibel korreliert. Bei sehr hohem gesellschaftlichem Entwicklungsniveau steigt die Geburtenrate wieder an. Dieser Effekt wurde für Länder mit einem Human Development Index von > 0,9 nachgewiesen (Myrskylä 2009). Auch in Österreich gibt es in manchen Regionen bereits Anzeichen für eine Trendänderung – auch unabhängig von der Gruppe der Migranten.

Kompression der Morbidität als Zukunftschance

Eine wesentliche Frage ist, ob es angesichts der höheren Zahl von Lebensjahren zu einer Expansion oder einer Kompression der Morbidität kommen wird. Die steigende Anzahl der Bezieher von Pflegeleistungen (Abb. 2) lässt auf den ersten Blick eine Expansion der Morbidität vermuten. „Tatsächlich dürften heute aufgrund besserer Informationen mehr pflegebedürftige Menschen diese Möglichkeit in Anspruch nehmen als früher. Es sinkt also lediglich die Non-Take-up-Rate“, sagte Kolland.
Die Zahlen von Statistik Austria sprechen für eine Zunahme der subjektiv gesunden Jahre. Österreicherinnen und Österreicher vergleichbaren Alters empfinden heute ihren Gesundheitszustand als besser als noch vor einigen Jahren.

 

 

Hochaltrigkeit differenzierter betrachten

Im höheren Alter ist niemand völlig gesund, wie die Newcastle-75+-Studie (Collerton 2009) mit 729 Teilnehmern zeigt. Bei Männern lagen durchschnittlich 4 der untersuchten 18 Krankheiten vor, bei Frauen 5. Rund die Hälfte der Personen berichtete von Schmerzen, über ein Drittel war im vorangegangenen Jahr gestürzt. Aber die gute Nachricht ist: Rund 20 % der Hochaltrigen hatten keine Schwierigkeiten in 17 evaluierten Alltagsaktivitäten. 78 % der Befragten bewerteten ihren Gesundheitszustand als gut, sehr gut oder sogar exzellent. „Wir müssen die Hochaltrigkeit also viel differenzierter betrachten“, sagte Kolland: „Es gibt eine Gleichzeitigkeit von ,komprimierter Morbidität‘ und verstärkter Gebrechlichkeit.“ Psychosoziale Einschränkungen werden in den Studien allerdings oft vernachlässigt. Diese sind im Steigen begriffen.

Wer pflegt die Baby-Boomer?

Baby-Boomer werden im höheren Alter weniger oft die Möglichkeit zur Pflege durch Kinder oder Partner in Anspruch nehmen können und fühlen sich gleichzeitig weniger dazu verpflichtet, Pflege zu übernehmen; sie sehen sich in der Rolle der Organisatoren (Ryan 2012, Guberman 2012).
Baby-Boomer leben auch ein neues Altersidentitätskonzept, das durch eine Maskierung des eigenen Alterns gekennzeichnet ist, sagte Kolland. Weil Baby-Boomer sich selbst nicht als alt erleben, ist die Integration in die Gruppe der Älteren in institutionellen Wohnformen schwierig. In verschiedenen Ländern gibt es bereits unterschiedliche Wohnkonzepte, die diesem Umstand Rechnung tragen – bis hin zu betreutem Wohnen auf einem Kreuzfahrtschiff.

Tripel-A des Alterns: Aktivität, Autonomie und Anerkennung

Was aber kann man über einen gesunden Lebensstil hinaus tun, damit Altern gelingt? Dafür sei es, so Kolland, entscheidend, nicht von einem fertigen Menschenbild auszugehen, sondern vom Menschen in seiner Potenzialität: „Wir brauchen hier eine andere Kultur.“ Altern sei ein „Werden zu sich selbst“. Das Annehmen seiner selbst in dieser Fragilität gehöre ganz wesentlich zum „Werden zu sich selbst“. Unterstützt wird dies durch eine geteilte Verantwortung und Anerkennung. Kollands Credo: „Das Tripel-A des Alterns ist: Aktivität, Autonomie und Anerkennung.“**

 

* „Vom Lebens-Künstler zum Alters-Künstler“ – Vortrag von Univ.-Prof. Mag. Dr. Franz Kolland, Institut für Soziologie der Universität Wien, im Rahmen des Dificlir-Launch-Symposiums am 23. 11. 2012
** Kolland, Franz (2013): Demografische Alterung und ihre Herausforderungen für die Gesellschaft. In: Hungerbühler, Hildegard (Hrsg.) Pflegende Angehörige. Zürich: Seismo (in Druck)