Wachstumsstörungen

Definitionen

Kleinwuchs: Der Begriff „normale Körpergröße“ wird durch einen Messwert innerhalb statistisch festgelegter Normen definiert: Ist ein Kind kleiner als 97 % seiner Altersgenossen, gilt es als kleinwüchsig: Seine Körpergröße liegt unterhalb der 3. Perzentile. Bezugnehmend auf die Verwendung des Begriffes „Kleinwuchs“ für Menschen mit einer Körpergröße weit unter der 3. Perzentile, zum Beispiel bei Achondroplasie, muss immer wieder richtiggestellt werden, dass „Kleinwuchs“ keine Diagnose ist, sondern eine statistische Definition. Da also die Beschreibung des Ausmaßes von Kleinwuchs durch den Perzentilenbegriff schlecht abgedeckt ist, hat sich der Begriff der Standardabweichungs-Scores (SDS) durchgesetzt. Die Berechnung dieser Scores stützt sich ebenso wie die Darstellung der Perzentilen auf Referenzen gesunder Kinder. Für Österreich stehen für 4–19 Jahre geeignete Referenzen zur Verfügung, ab Geburt wird die Verwendung der WHO-Standards empfohlen.1 Die Berechnung von SDS erfolgt elektronisch unterstützt, die Website www. wachstum.at* wurde hierfür entwickelt.

Wachstumsstörung: Der Begriff der Wachstumsstörung beschreibt ein reduziertes Längenwachstum und ist besser geeignet, Pathologien zu vermuten. Eine Wachstumsstörung liegt vor, wenn die Wachstumskurve des Kindes die Perzentilenkurve „schneidet“ oder die SDS deutlich abfallen.

Normvarianten sind häufiger als Pathologien

Die wichtigste regulative Rolle hinsichtlich Körpergröße wird heute den Genen zugeordnet.2 Eine Orientierung über den familiär-genetischen Hintergrund gibt die sogenannte „familiäre Ziellänge“ – liegt die familiäre Ziellänge ebenso wie die Körpergröße des Kindes unter –2,0 SDS, ist das Wachstum über die Zeit aber normal, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um eine genetisch bedingte Normvariante (familiärer Kleinwuchs). Vorsicht bei dieser Zuordnung ist gegeben, wenn die Körperproportionen des Kindes und eines Elternteils auffallend sind (s. u.).

Abklärung von Wachstumsstörungen

In spezialisierten Zentren ist der Ablauf einer Kleinwuchs-Abklärung gemäß evidenzbasierten Guidelines standardisiert.3 Eine Körpergröße kleiner als –2,5 SDS zusammen mit einem Abweichen der aktuellen Größe von der familiären Zielgröße über ein gewisses Ausmaß hinaus (2,0 SDS) stellt eine Ausgangssituation dar, bei der eine Abklärung eingeleitet werden sollte, vor allem, wenn die Körpergröße (mehr als 1,0 SDS) abgefallen ist. Da die genetisch bedingten Wachstumsstörungen meist durch veränderte Körperproportionen charakterisiert sind, sollte die Messung der Körperproportionen am Beginn eines Abklärungspfades stehen. Für die Beurteilung der Körperproportionen stehen einfache Anleitungen und elektronische Berechnungsmöglichkeiten zur Verfügung (www.wachstum.at*). Je nach Ergebnis der Messung der Körperproportionen gestaltet sich der weitere Gang der Untersuchungen:

  • bei proportioniertem Kleinwuchs Richtung Ausschluss eines WH-Mangels (Untersuchungen der WH-Achse siehe unten)
  • bei dysproportioniertem Kleinwuchs und/oder milden Dysmorphiezeichen Richtung genetisch bedingte Wachstumsstörungen und Skelettdysplasien (genetische Untersuchungen siehe unten)

Diagnostische Hilfsmittel

Handwurzelröntgen: dient zur Bestimmung des Knochenalters und zur Erfassung eventueller kleiner radiologischer Auffälligkeiten.

Blickdiagnosen

  • Brachyphalangien und Brachymetakarpien z. B. bei Pseudohypoparathyreoidismus 1A
  • Madelungsche Deformität bei SHOX-Defizienz (bei Turner-Syndrom, Léri-Weill-Syndrom)
  • metaphysäre Dysplasie (z. B. bei Achondroplasie, Hypochondroplasie), epiphysäre Dysplasie

Labor

IGF-1 und IGFBP-3: Wachstumsfaktor, der über Einfluss von Wachstumshormon in der Leber produziert wird und sein wichtigstes Bindungsprotein.4 Die Bestimmung dieser Blutwerte und die Bewertung des Resultats (in SDS) sollte der Endokrinologe anordnen und vornehmen, denn IGF-1- und IGFBP- 3-Werte können auch bei ganz gesunden und normal großen Kindern aus verschiedenen Gründen vermindert sein.

WH-Stimulationstest: Als erster Test wird zumeist der gut verträgliche Arginin-Toleranztest durchgeführt, danach bei Kindern über 8 Jahren ein Insulintest. Für die Diagnose eines Wachstumshormonmangels sind 2 pathologische Tests definiert (maximaler Wert < 7 ng/dl).

Parathormon (PTH) und follikelstimulierendes Hormon (FSH): PTH ist erhöht bei Pseudohypoparathyreoidismus, FSH bei Turner-Syndrom.

Genetik: Es empfiehlt sich eine stufenweise genetische Diagnostik5, beginnend je nach zusätzlichen klinischen Hinweisen mit Zytogenetik (Turner-Syndrom 1 : 2.500 aller Mädchen), SHOX-Diagnostik (Léri-Weill-Syndrom, 1 : 6.000), FGFR3-Molekulargenetik (Achondroplasie, Hypochondroplasie) (1–9 : 100.000), Noonan-Syndrom-Panel (1–5 : 10.000). Vor einer langwierigen weiteren exomweiten genetischen Analyse sollte ein Array für vergleichende genomische Hybridisierung (CGH-Array) größere Deletionen oder Duplikationen ausschließen. Da die ausgedehnten Exom-Untersuchungen zunehmend preisgünstiger werden, wird aktuell meist nach Ausschluss dieser Verdachtsdiagnosen ein Clinical Exome (hunderte Gene, die bereits mit Kleinwuchs in Verbindung gebracht werden) den Platz weiterer gezielter molekularer Diagnosen übernehmen.

Behandelbare Wachstumsstörungen

Endokrin bedingte Wachstumsstörungen: Ein Wachstumshormon-(WH-)Mangel hat eine Häufigkeit von 1 : 4.000 bis 1 : 10.000. Ätiologisch liegen den angeborenen Formen Fehlbildungen der Hypophyse (ektope Neurohypophyse, Aplasie, Hypoplasie, septo-optische Dysplasie) oder genetische Formen (Mutationen an Hypophysen-Entwicklungsgenen, am Wachstumshormongen oder GHRH-Gen) zugrunde. Bei Fehlbildungen der Hypophyse und bei Gendefekten führen bei den betroffenen Neugeborenen und Säuglingen hartnäckige Hypoglykämien zur Verdachtsdiagnose WH-Mangel, vor allem, wenn kombinierte Ausfälle von Hypophysenhormonen inklusive ACTH-/ Kortisolmangel vorliegen. Eine Reihe von erworbenen Erkrankungen wie Verletzungen oder Tumoren der Hirnanhangsdrüse können zu jeder Zeit im Leben eines Menschen einen Wachstumshormonmangel auslösen. Auch infolge hoch dosierter Bestrahlungen des Kopfbereiches (wie bei der Behandlung von Hirntumoren) kann es bei Kindern wie auch bei Erwachsenen zu einem Wachstumshormonmangel kommen. Sehr häufig aber lässt sich eine genaue Ursache des Wachstumshormonmangels im Kindesalter nicht feststellen (idiopathischer Wachstumshormonmangel).

Therapien

Wachstumshormon: Über die Therapie mit biotechnologisch hergestelltem, menschlichem Wachstumshormon liegen nun beinahe 40 Jahre Erfahrung vor. Bei Kindern mit Wachstumshormonmangel kann durch die Substitutionstherapie (25 μg/kg/Tag) die Körpergröße hin zur genetischen Ziellänge normalisiert werden. Die Behandlung wird bis zum Abschluss des Wachstumsalters fortgesetzt. Bei Patienten mit persistierendem Wachstumshormonmangel (ITT < 5 ng/ml) ist es nötig, die Therapie in niedrigerer Dosierung auch im Erwachsenenalter fortzuführen. Hier wird nach Abschluss des Wachstums und nach Pausieren der Therapie eine neuerliche Testung durchgeführt. Auch bei Kindern mit Turner- Syndrom, Léri-Weill-Syndrom, Noonan- Syndrom, Prader-Willi-Syndrom und nach stattgehabter intrauteriner Wachstumsstörung ohne Aufholwachstum sowie bei chronischer Niereninsuffizienz ließ sich in Zulassungsstudien eine Verbesserung der Endgröße um 5–8 cm nachweisen, für diese Diagnosen ist eine Wachstumshormontherapie in Europa registriert (in den USA auch für die idiopathischen Wachstumsstörungen). Die Behandlung des Wachstumshormonmangels gehört in die Hände eines erfahrenen Kinder-Endokrinologen (Hormonspezialisten). Während das bisher zugelassene Wachstumshormon der verschiedenen Hersteller täglich verabreicht wird, stehen Langzeitpräparate, die nur noch einmal pro Woche appliziert werden müssen, knapp vor der Zulassung.6 Während die Nachahmung der physiologischen Serumspiegel von Wachstumshormon und IGF-I durch diese Depotpräparate weiterhin vor allem bei Kindern herausfordernd erscheint, bestehen durch diese Entwicklungen ohne Zweifel Vorteile in der klinischen Anwendung. Eine weitere zugelassene Therapie ist das biosynthetische IGF-I bei der Indikation Wachstumshormonrezeptor-Defekt- Laron Syndrom.

Neue Entwicklungen: Für Kinder mit Achondroplasie wurden verschiedene Moleküle getestet, die den veränderten FGFR-3-Pathway beeinflussen, hier steht nach ersten klinischen Studien an Kindern ein C-natriuretisches-Peptid-(CNP-)Analogon knapp vor der Zulassung.7 Naturgemäß liegen noch keine Daten über zu erwartende Verbesserungen der Endlänge vor.


* www.wachstum.at ist eine kostenfreie, webbasierte Software, die von Spezialisten der Arbeitsgruppe Pädiatrische Endokrinologie (APED) der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ) in Zusammenarbeit mit der MedUni Wien geschaffen wurde, um Eltern, aber auch Ärzten für Allgemeinmedizin und Fachärzten für Kinderheilkunde wichtige Informationen zum Thema Wachstum und Ernährungszustand zur Verfügung zu stellen und um Längendaten zu verwalten, Berechnungen durchzuführen und Referenzkurven grafisch darzustellen.


  1. Gleiss A et al., Ann Hum Biol 2013; 40(4):324–32

  2. Allen HL et al., Nature 2010; 467(7317):832–8

  3. Grote FK et al., Arch Dis Child 2008; 93(3):212–7

  4. Blum WF et al., Endocr Connect 2018; 7(6):R212–R222

  5. Argente J et al., Front Endocrinol (Lausanne) 2019; 10:602

  6. Miller BS et al., J Clin Endocrinol Metab 2020; 105(6):e2121–e2133

  7. Savarirayan R et al., N Engl J Med 2019; 381(1):25–35