Für die klinische Praxis ist es essenziell, die geschlechtsspezifischen Unterschiede zu erfassen und in Diagnostik, Therapieplanung und Verlaufskontrolle zu integrieren, um eine individualisierte und effektive Versorgung zu gewährleisten.
Frauen leiden deutlich häufiger an entzündlich rheumatischen Systemerkrankungen als Männer. So liegt das Verhältnis bei der rheumatoiden Arthritis (RA) etwa bei 3 : 1 zugunsten der Frauen, beim systemischen Lupus erythematodes (SLE) sogar bei 9 : 1. Auch die Sjögren-Erkrankung, die progressiv systemische Sklerose und die Polymyalgia rheumatica betreffen überwiegend Frauen. Demgegenüber galten Spondyloarthritiden (SpA) in der Vergangenheit als Erkrankungen, die nur Männer betreffen. Heute wissen wir, auch aufgrund der modernen bildgebenden Verfahren, dass Frauen fast ebenso häufig betroffen sind, allerdings öfter atypische oder oligosymptomatische Verlaufsformen zeigen, was zu verzögerter Diagnose und Therapieeinleitung führen kann.
Hormonelle Unterschiede – insbesondere Östrogene und Androgene – sowie immunologische Differenzen, z. B. im zellulären Immunprofil, spielen eine Rolle. Frauen zeigen generell eine stärkere humorale Immunantwort, was mit der höheren Prävalenz von Autoimmunerkrankungen korreliert. Auch das Vorhandensein zweier X-Chromosomen beeinflusst immunregulatorische Gene. Schwangerschaft und Menopause sind hormonell wichtige Lebensphasen, in denen sich autoimmunologische Erkrankungen manifestieren bzw. Krankheitsverläufe maßgeblich verändern können.
Frauen berichten häufiger über unspezifische Symptome wie Fatigue, diffuse Schmerzen und kognitive Beeinträchtigungen. Diese werden nicht selten als funktionell fehlinterpretiert, was zu einer Verlängerung des „Diagnostic Delay“ führt. Männer wiederum präsentieren sich häufiger mit strukturellen Gelenkveränderungen oder erosiven Verlaufsformen, etwa bei RA. Bei der ankylosierenden Spondylitis wird bei Frauen seltener das klassische röntgenologische Vollbild beobachtet, wohingegen nichtröntgenologische Spondyloarthritiden (nr-axSpA = MRT-gesicherte SpA) in einem Geschlechterverhältnis von ca. 1 : 1 diagnostiziert werden.
Wichtig ist in jedem Fall, die subjektive Beschwerdelast der Patient:innen ernst zu nehmen. Patient-reported Outcome Measures (PROM) im Rahmen der Krankheitsaktivitätsmessung ermöglichen es, die subjektive Sicht der Patient:innen zu integrieren. Man muss dabei allerdings berücksichtigen, dass z. B. eine höhere Schmerzwahrnehmung, vor allem bei Frauen, hier das Ergebnis maßgeblich beeinflussen kann.
In klinischen Studien wurde wiederholt ein unterschiedliches Therapieansprechen beobachtet. So zeigen Frauen unter TNF-a-Inhibitoren bei RA tendenziell geringere Remissionsraten als Männer. Unter csDMARDs (klassische Basismedikamente) wie Methotrexat werden bei Frauen häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen und subjektive Unverträglichkeiten berichtet, was naturgemäß die Adhärenz beeinflusst. Männer mit RA hingegen laufen Gefahr, bei vergleichsweise milder klinischer Symptomatik häufiger übertherapiert zu werden, was potenziell vermeidbare Risiken birgt.
In der Praxis empfiehlt es sich, Therapien unter geschlechtsspezifischen Gesichtspunkten zu individualisieren – dies betrifft nicht nur die Substanzwahl, sondern auch Dosisanpassungen, Applikationsform, Monitoringfrequenz und psychosoziale Begleitmaßnahmen.
Gender – also die soziale Geschlechterrolle – beeinflusst maßgeblich den individuellen Umgang mit Krankheit. Frauen haben häufiger familiäre Pflegeverantwortung und Versorgungsaufgaben und berichten seltener von Einschränkungen im Beruf, obwohl objektive Krankheitslast besteht. Männer hingegen suchen medizinische Hilfe oft später, wodurch sich Diagnosen verzögern und Krankheitsverläufe aggressiver ausfallen können. Bildungsferne ist ebenfalls ein Risikofaktor für spätere Diagnose und schwereren Krankheitsverlauf.
In der Kommunikation mit Patient:innen ist es daher wichtig, entsprechende verständliche Gesprächsstrategien zu verwenden, sich des Genderaspektes bewusst zu sein und psychosoziale Kontexte zu berücksichtigen. Auch die Patientenedukation sollte geschlechtsspezifisch differenziert erfolgen, insbesondere bei Themen wie Fertilität, Schwangerschaftsplanung oder beruflicher Reintegration.
Praxismemo