
ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Mag. Alexander Hayn
und Mag. Philipp Lindinger (v. r. n. l.); © Oliver Miller-Aichholz
Wo steht das österreichische Gesundheitssystem, wo liegen die größten Baustellen und welche politischen Maßnahmen sind tatsächlich geeignet, Versorgung langfristig zu sichern? Diesen Fragen widmeten sich AUSTROMED-Vorstandsmitglied Mag. Alexander Hayn und Geschäftsführer Mag. Philipp Lindinger in einem Gespräch mit ao. Univ.-Prof. Dr. Herwig Ostermann, Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). Gemeinsam nahmen sie zentrale Forderungen der Medizinprodukte-Branche (siehe Neue Impulse für heimische Betriebe) kritisch unter die Lupe, diskutierten Versorgungsrealität und Zukunftsperspektiven und holten die Experteneinschätzung zu jenen Bereichen ein, in denen der Handlungsdruck besonders groß ist.
Wie realistisch schätzen Sie die Umsetzung der AUSTROMED-Forderungen an die Bundesregierung ein?
Die Forderungen fassen die Positionen der AUSTROMED als Sprachrohr der österreichischen Medizinprodukte-Branche konzise zusammen. Entscheidend ist nun, in einen vertieften Dialog zu treten, denn viele der Argumente und Vorschläge beziehen sich stark auf europäische Rahmenbedingungen. Dabei stellt sich die Frage, welche Ebene konkret adressiert werden soll und inwieweit nationale Umsetzungsmaßnahmen mit der europäischen Gesetzgebung vergleichbar und kompatibel sind. Hier empfiehlt es sich, auch den Austausch mit vergleichbaren Ländern zu suchen, etwa mit Deutschland. Aus regulatorischer Sicht gibt es zwei Perspektiven: Einerseits müssen neue Regeln für alle Beteiligten praktikabel und handhabbar sein. Andererseits braucht es Vergleichbarkeit und Rechtssicherheit, damit sich Hersteller und andere Akteure verlässlich darauf einstellen können. Ich denke, dass hier in Europa bereits gute Ansätze entwickelt werden. Es wird intensiv daran gearbeitet, starke öffentliche Strukturen, wie z. B. die Europäische Datenbank für Medizinprodukte (EUDAMED), aufzubauen, und ich bin überzeugt, dass dieser Weg richtig ist. Denn starke Verwaltungen sorgen nicht nur für Stabilität und Rechtssicherheit, sondern stärken auch die europäischen Grundwerte, fördern die Transparenz und gewährleisten eine funktionierende Governance, mit dem obersten Ziel, die Patientensicherheit zu erhöhen.
Auf EU-Ebene orten wir fehlende Zuständigkeiten für die Medizinprodukte-Branche. Wie gut stehen daher die Chancen für eine sektorenübergreifende, integrierte Sichtweise?
Die Governance-Strukturen sind tatsächlich ein herausforderndes Thema. Anders als bei Arzneimitteln, wo klar definierte Zuständigkeiten und vergleichsweise homogene Strukturen bestehen, ist die Medizinprodukte-Branche deutlich heterogener. Sie umfasst ein breites Spektrum an Produkten, Anwendungen und Wirtschaftsakteuren. Auf europäischer Ebene ist die Generaldirektion für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (DG SANTE) für die Regulierung, Überwachung und Weiterentwicklung der Gesetzgebung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika zuständig. Für die Konformitätsbewertung und Zertifizierung von Medizinprodukten und In-vitro-Diagnostika mittlerer bis hoher Risikoklassen sind in der EU Benannte Stellen zuständig – unabhängige, privatwirtschaftliche Organisationen mit spezieller Zulassung. Wir beobachten, dass sich der Dialog zwischen nationalen Vertretungen, europäischen Institutionen und den Stakeholdern in den letzten Jahren intensiviert hat. Angesichts der aktuellen Rahmenbedingungen könnte genau jetzt der richtige Zeitpunkt sein, um sektorenübergreifende und ganzheitliche Ansätze zu entwickeln.
In Österreich lässt sich hier ein gewisses Umdenken erkennen. Gesundheitsthemen sind zunehmend in unterschiedlichen Politikfeldern verankert, das eröffnet Chancen für eine integrativere Herangehensweise. Wenn es gelingt, verschiedene Dimensionen – von der Regulierung über die Versorgung bis hin zu wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Aspekten – gemeinsam zu denken, könnte ein kohärenterer Umgang mit Medizinprodukten entstehen.
Wird die Finanzierung aus einer Hand kommen?
Das lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht seriös vorhersagen. Klar ist jedoch: In der österreichischen Struktur der öffentlichen Daseinsvorsorge besteht erheblicher Reformbedarf. Seit der Pandemie ist der Weg hin zu einem breiten politischen Konsens über die Notwendigkeit von Veränderungen sehr deutlich geworden.
Ist die gesamtwirtschaftliche Perspektive unter dem Motto „nicht sparen an, sondern mit Medizinprodukten“ in der Politik angekommen?
Tatsächlich gewinnt diese gesamtwirtschaftliche Perspektive zunehmend an Bedeutung. In der politischen Diskussion rücken volkswirtschaftliche Argumente stärker in den Fokus, was nicht zuletzt auch an der aktuellen Ressortstruktur liegt: Gesundheit, Soziales, Konsumentenschutz, Langzeitpflege und Arbeit werden derzeit unter einem politischen Dach verantwortet. Diese Konstellation ermöglicht eine umfassendere Betrachtung, bei der die verschiedenen Themenfelder nicht isoliert, sondern in ihrem Zusammenspiel gesehen werden.
Mitten in der laufenden Gesundheitsreform fällt auf, dass das Erstattungssystem nicht angetastet wird. Wo stehen wir hier?
Der Fokus liegt derzeit vor allem auf der Frage, ob überhaupt ausreichend öffentliche Mittel für das Gesundheitssystem zur Verfügung stehen, und weniger darauf, wie diese Mittel strukturiert und zielgerichtet eingesetzt werden könnten. Bei der Ausgabenentwicklung stehen gleich mehrere strukturelle Fragen im Raum: der einheitliche Leistungskatalog, ein einheitliches Vertragssystem im niedergelassenen Bereich sowie der dringend notwendige Brückenschlag zwischen ambulanter und stationärer Versorgung. Positiv zu vermerken ist, dass innerhalb der Sozialversicherung erste Schritte in Richtung einer Vereinfachung unternommen werden. So wird die Idee eines „One-Stop-Shops“ stärker verfolgt, ein Ansatz, bei dem Leistungen stärker aus Sicht der Bevölkerung und ihres konkreten Bedarfs gedacht und gebündelt werden. Ein solcher Perspektivenwechsel könnte ein wichtiger Schritt sein, um die Versorgungslogik künftig stärker in den Mittelpunkt der Reformbemühungen zu rücken.
Für Innovationen im Gesundheitswesen scheint im niedergelassenen Sektor kein Platz zu sein. Wie steht es um die Zugänglichkeit von Innovationen im intra- und extramuralen Bereich?
Innovationen stoßen im österreichischen Gesundheitswesen auf sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen. Während im extramuralen Bereich keine allgemeine Verfahrenslogik vorgesehen ist, wie Innovationen in die Versorgung gelangen können, gibt es im Spitalswesen im Rahmen der LKF-Systematik etablierte Mechanismen, um neue Technologien zu integrieren. Innovationen bewegen sich fast immer im ökonomischen Grenzbereich und verursachen mitunter zunächst Kosten, bevor sich ihr Nutzen zeigt. Doch dieser Nutzen kann vielfältig sein und geht über die unmittelbare Kosteneinsparung hinaus, etwa durch verbesserte Behandlungsqualität, effizientere Abläufe oder einen Mehrwert für die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses.
Im niedergelassenen Bereich fehlt es an systematisch organisierten Strukturen, die eine Bewertung und Implementierung neuer Technologien ermöglichen. Einen vielversprechenden Ansatz bietet dabei Health Technology Assessment (HTA), damit könnten Innovationspotenziale zeitnah erkannt und zielgerichtet in die Versorgung integriert werden. Innovation bedeutet dabei nicht nur technologische Neuerungen. Auch regulatorische Entwicklungen können Innovationsprozesse entscheidend fördern. Um Innovationen im Gesundheitswesen nachhaltig zu fördern, braucht es also nicht nur technologische Offenheit, sondern auch finanzielle, strukturelle und regulatorische Anpassungen.
Die Bedeutung der Digitalisierung im Gesundheitswesen ist längst erkannt, doch bleibt die Umsetzung in der Praxis bislang hinter den Erwartungen zurück. Wie wird sich das Thema weiterentwickeln?
Ein wesentlicher Grund dafür liegt im Spannungsfeld zwischen Innovationsdruck und Systemerhalt. Einerseits ist klar, dass digitale Anwendungen rasch in die Versorgung integriert werden müssen, um Prozesse effizienter zu gestalten, Versorgungsqualität zu verbessern und neue Formen der Betreuung zu ermöglichen. Andererseits ist das bestehende System derzeit stark damit beschäftigt, die vorhandenen Strukturen und Leistungen abzusichern.
Diese Situation führt zu einem Paradoxon: Um effizienter zu werden, müssten zunächst Investitionen getätigt werden, etwa in neue Technologien, digitale Infrastrukturen oder Schulungsmaßnahmen. Genau diese Investitionen sind jedoch schwer zu argumentieren, wenn gleichzeitig der finanzielle Druck im System hoch ist und jeder zusätzliche Euro sorgfältig abgewogen werden muss.
Kurz- bis mittelfristig hängt die digitale Transformation daher entscheidend davon ab, ob es gelingt, diesen Widerspruch aufzulösen: Nur wenn gezielte Investitionen in innovative Lösungen zugelassen und politisch unterstützt werden, kann das Gesundheitssystem langfristig effizienter, patientenzentrierter und zukunftssicher gestaltet werden.
Was braucht es, um die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben?
Damit Digitalisierung im Gesundheitswesen nachhaltig erfolgreich sein kann, muss sie vor allem eines leisten: einen spürbaren Nutzen für die Bevölkerung schaffen. Wesentlich für eine erfolgreiche Umsetzung ist auch eine vorausschauende Planung. Digitale Versorgungsangebote orientieren sich nicht an Landesgrenzen oder regionalen Zuständigkeiten. Ein „digitales Ambulatorium“ funktioniert naturgemäß überregional und muss entsprechend geplant und strukturiert werden, um flächendeckend Wirkung zu entfalten.
Gleichzeitig gilt es, das Thema Zugänglichkeit differenziert zu betrachten. Telemedizin ist nicht für jede Person und jede Situation die passende Lösung. Richtig eingesetzt kann Telemedizin mehr sein als nur ein digitales Zusatzangebot. Sie kann die Versorgungsrealität verändern, den Zugang zur Medizin erleichtern und damit einen echten Mehrwert für große Teile der Bevölkerung schaffen.
Würde sich damit auch ein Ärztemangel ausgleichen lassen?
Telemedizin kann nicht nur die Versorgung verbessern, sondern auch einen Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems leisten – etwa im Rettungswesen oder im Notarztdienst. Durch zentrale telemedizinische Unterstützung und entsprechend ausgebildetes Gesundheitspersonal können Einsätze effizienter abgewickelt werden, und auch die Einbindung von medizinischer Expertise kann auf diesem Wege unterstützt werden.
Gerade im Bereich der Notfallversorgung wird deutlich, wie eng Digitalisierung und Strukturreform miteinander verknüpft sind. In Dänemark etwa wird bereits ein Großteil des Aufnahmeprozesses im Rettungstransport abgewickelt. Die relevanten Patientendaten stehen im Krankenhaus zur Verfügung, noch bevor die Patientin oder der Patient eintrifft – ein Modell, das Effizienz und Versorgungsqualität deutlich steigern kann.
Was den Ärztemangel betrifft, ist die Situation komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Österreich hat nicht unbedingt zu wenige Ärztinnen und Ärzte, doch sie sind regional und sektoral ungleich verteilt. In den vergangenen Jahren wurden aber wichtige und wirksame Akzente gesetzt: So wurde die Primärversorgung verstärkt ausgebaut, was sich inzwischen auch im Interesse der Studierenden widerspiegelt. Zudem wurden zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen – etwa durch die neue medizinische Fakultät in Linz. Die internationale Konkurrenz um medizinisches Personal ist dabei wahrscheinlich nicht so ein dominierender Faktor, wie oft angenommen wird.
Wir orten große Zielkonflikte im Gesundheitswesen. Wie können kurzfristige Stabilität und langfristige Strategien in Einklang gebracht werden?
Derzeit steht auf der politischen Agenda eindeutig die fiskalische Stabilisierung im Vordergrund. Langfristig führt jedoch kein Weg daran vorbei, über reine Kostendämpfungsmaßnahmen hinauszudenken. Paradoxerweise gilt: Nur durch gezielte Investitionen in Gesundheit lässt sich verhindern, dass die volkswirtschaftlichen Ausgaben in diesem Bereich explodieren. Prognosen des Fiskalrats zeigen deutlich, dass strukturelle Defizite vor allem in den Bereichen Pensionen, Langzeitpflege und Gesundheit entstehen – und dort insbesondere der demografische Wandel als Treiber wirkt.
Die Lösung kann nur in einer umfassenden, langfristigen und sektorübergreifenden Strategie liegen. Eine solche Strategie darf sich nicht auf das Gesundheitssystem allein beschränken, sondern muss Beschäftigung, Arbeitsmarkt und Erwerbsfähigkeit ebenso einbeziehen. Gleichzeitig sollte sie aufzeigen, wie Innovationen – etwa auch durch Medizinprodukte – nachhaltig zur Gesundheit der Bevölkerung beitragen können.
Nur wenn kurzfristige fiskalische Stabilität und langfristige Zukunftsstrategien zusammengedacht werden, kann es gelingen, den Zielkonflikt zu entschärfen und ein Gesundheitssystem zu gestalten, das auch in Jahrzehnten noch tragfähig, innovativ und gerecht ist.