Aggression und die ärztliche Rolle in der Gesellschaft

Als niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sind wir automatisch in einer öffentlichen Position. Damit ist gemeint, dass wir neben unserem medizinischen Handeln auch eine repräsentative Rolle einnehmen. Unsere Meinungen bzw. Stellungnahmen werden einerseits von unseren Patient:innen in den individuellen Gesprächen gesucht, aber von diesen auch weitergetragen und in gesellschaftlichen Diskursen verwendet. Das bedeutet für uns, dass die öffentliche Wirksamkeit ein fester Bestandteil unserer „Professionalität” ist. Je öffentlicher wir auftreten, desto angreifbarer werden wir. Die gesellschaftliche Wahrnehmung unserer Meinung findet aber in allen Fällen statt, ob im Ordinationsgespräch, in einer Zeitschrift oder auf irgendeiner Art von Bühne.
Unsere Meinung kann Sicherheit oder Zweifel vermitteln, sollte aber vor allem mit Achtsamkeit darauf geäußert werden, dass durch die Vielfalt der Weltbilder Polarisierungen entstehen, wie wir es in den letzten beiden Jahren besonders intensiv erlebt haben. Gerne würden wir uns auf den Stand der Wissenschaft berufen. Diese ist jedoch lebendig, weshalb auch wir immer wieder mit Unsicherheiten und wechselnden Erkenntnissen konfrontiert werden.

In der täglichen Arbeit erleben wir Erwartungen, die wir häufig aus verschiedensten Gründen nicht erfüllen können. Sei es, weil diese nicht unserer medizinischen Sichtweise, den Regeln des Gesundheitssystems oder unserer Überzeugung, dass durch die Wunscherfüllung eventuell Schaden entsteht, entsprechen. Wir versuchen Kompromisse zu finden und eine gemeinsame Verständnisebene aufzubauen. Gelingt uns das nicht, trifft uns häufig Zorn beziehungsweise Aggression. Es ist in der Regel nicht einfach, bei einem derartigen Geschehen nicht selbst emotional betroffen zu sein. Insbesondere, wenn es zu persönlichen Drohungen kommt, sind Überlegungen in zwei Richtungen notwendig: Einerseits geht es um eine Balancierung der eigenen Gefühle, andererseits kommen Strategien zu Selbstschutz und Schutz der Ordination zum Tragen.
Um die Vielfalt von Argumenten und unterschiedlichen Betrachtungsweisen zu erfahren und die eigenen Gefühle bewusst zu haben, ist der sachliche Austausch im Kollegenkreis im Rahmen von Qualitätszirkeln, Balintgruppen oder von Supervisionen hilfreich. Derartige Reflexionsmöglichkeiten sollten uns über unseren gesamten Berufsweg hinweg begleiten.

Wenn persönliche Bedrohungen stattfinden, sollte man nicht zögern, Hilfe durch zuständige Stellen der Ärztekammer und der öffentlichen Sicherheitsorgane in Anspruch zu nehmen. Die entsprechenden Ansprechstellen sind bei den Landesärztekammern zu finden.
Unsere Mitarbeiter:innen sollten wir nicht vergessen und in diese Überlegungen einbeziehen. Sie identifizieren sich wie wir mit der Ordination und werden von außen mit der Ordination identifiziert. Strukturierte Teamgespräche sind in solcher Situation sowohl in der Gruppe als auch im Einzelgespräch angebracht.

Wir sind und bleiben als Begleiter:innen und Ratgeber:innen für einzelne Personen und für die Gesellschaft wichtig. Aber auch wir haben selbst ein Recht auf Schutz und Begleitung und sollten wissen, wohin wir uns bei Bedarf wenden können. Zum Erhalt unserer Berufszufriedenheit und Professionalität ist eine berufsbegleitende Reflexion wesentlich.