Armut kann Ihre Gesundheit gefährden!

Frau Schöller schlägt sich als Ich-AG und Armutsunternehmerin mit Gebrauchsgrafiken durch den Alltag. Ihr dreijähriger Sohn leidet seit seiner Geburt an schwerem Asthma. Er braucht viel Zeit. Der Lohn ihrer Arbeit ist unregelmäßig und gering. Loch auf, Loch zu. So muss sie rechnen: einmal die Miete, einmal das Heizen, einmal das Telefon. Immer gibt es eine offene Rechnung. Kaputt werden darf nichts: kein Boiler und keine Waschmaschine. Mit dem Einkommen gibt es kein Auskommen. Arbeit schützt vor Armut nicht. Jetzt schon leben in Österreich Tausende in Haushalten, in denen der Verdienst trotz Erwerbsarbeit nicht reicht, um die eigene Existenz – und die der Kinder – zu sichern. Die Betroffenen weisen einen schlechten Gesundheitszustand auf, leben in feuchten, schimmligen Wohnungen, können ihren Kindern nur eingeschränkte Zukunftschancen bieten.

Armut ist relativ. Sie setzt sich stets ins Verhältnis, egal wo. Sie manifestiert sich in reichen Ländern anders als in Kalkutta. Menschen, die in Österreich von 600 Euro im Monat leben müssen, hilft es wenig, dass sie mit diesem Geld in Kalkutta gut auskommen könnten. Die Miete ist hier zu zahlen, die Heizkosten hier zu begleichen, und die Kinder gehen hier zur Schule.

Armut ist das Leben, mit dem die wenigsten tauschen wollen. Arme haben die schlechtesten Jobs, die geringsten Einkommen, die kleinsten und feuchtesten Wohnungen, sie haben die krankmachendsten Tätigkeiten, wohnen in den schlechtesten Vierteln, gehen in die am geringsten ausgestatteten Schulen, müssen fast überall länger warten – außer beim Tod, der ereilt sie um durchschnittlich sieben Jahre früher als Angehörige der höchsten Einkommensschicht.

Der Birnbaum

Armut ist eine der existenziellsten Formen von Freiheitsverlust. Armut ist nicht nur ein Mangel an Gütern, sondern immer auch ein Mangel an Möglichkeiten; zum Beispiel über Raum zu verfügen: aus einer heruntergekommenen Wohnung wegziehen können oder eben nicht. Oder sich frei ohne Scham in der Öffentlichkeit zu zeigen oder nicht. In Armut kann man sein Gesicht vor anderen verlieren. Oder die Verfügbarkeit über Zeit: Frauen mit Kindern in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, die nicht entscheiden können, wann und wie lange sie arbeiten und wann eben nicht. Oder die Freiheit sich zu erholen. Die sogenannte Managerkrankheit mit Bluthochdruck und Infarktrisiko tritt bei Armen dreimal so häufig auf wie bei den Managern selbst. Nicht weil die Manager weniger Stress haben, sondern weil sei die Freiheit haben, den Stress zu unterbrechen: mit einem Flug nach Paris oder einem guten Abendessen.

Nur weil ein Baum mit Birnen in der Wiese steht, heißt das noch nicht, dass alle sie auch pflücken können. Denn Freiheit erschließt sich für den Menschen, der vor einem Baum voll mit Birnen steht, nicht einfach dadurch, dass es einen Birnbaum gibt, sondern dass dem Kleinsten eine Leiter zur Verfügung steht. Das sind die Möglichkeiten, die es braucht, um Güter in persönliche Freiheiten umzusetzen. Möglichkeiten sind Infrastruktur, eine gute Schule, Leitern sozialen Aufstiegs, Kinderbetreuung zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Gesundheitsdienstleistungen, therapeutische Hilfen und vieles mehr. Und alle Leitern nützen nichts, wenn die Person nicht klettern kann. Auch die Investition in Fähigkeiten von Menschen ist wichtig. Und wenn jemand beispielsweise eine Behinderung aufweist, dann wird man sich auch andere Möglichkeiten, ein anderes Hilfsmittel überlegen müssen. Jedenfalls darf auf keines der drei vergessen werden: Güter, Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Denn alle gute Ausbildung nützt nichts, wenn es keine Jobs gibt. Und alle Möglichkeiten nützen nichts, wenn der Birnbaum mit einer Mauer abgesperrt ist und bestimmte Bevölkerungsgruppen vom Zugang ausgeschlossen sind. All das ist für die Armutsbekämpfung wichtig: ein offener Zugang zu den Gütern des Lebens, bedarfsgerechte Möglichkeiten, sie erreichen zu können, und Investitionen in die Fähigkeiten von Menschen.

Sag mir, wo du wohnst, und ich sag dir, wann du stirbst

Sag mir wo du wohnst, und ich sag dir, wann du stirbst. Dreieinhalb Kilometer Luftlinie oder vier Stationen mit der U-Bahn trennen den 15. und den 1. Bezirk. Die Patienten der beiden Bezirke trennt vor allen Dingen eines: viereinhalb Jahre Lebenserwartung. Weiters konnte gezeigt werden, dass das gesteigerte Sterberisiko während Hitzeepisoden gerade in jenen ärmeren oder billigeren Bezirken am stärksten erhöht ist: Menschen in diesem Bezirken haben nicht nur von vorneherein eine kürzere Lebenserwartung, sondern sie leiden auch überproportional an den schädlichen Einflüssen von Umweltbelastungen. Die Bevölkerung unter der Armutsgrenze weist einen dreimal schlechteren Gesundheitszustand auf als hohe Einkommen. Und ist doppelt so oft krank wie mittlere Einkommen und es zeigt sich eine soziale Stufenleiter, ein sozialer Gradient, der mit jeder vorrückenden Einkommensstufe die Gesundheit und das Sterbedatum anhebt.

Die „Unterschiede in den gesundheitlichen Belastungen“ wie auch die „Unterschiede in den Bewältigungsressourcen“ zwischen Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlichem sozialen Status wiegen schwerer als die „Unterschiede in der gesundheitlichen Versorgung“ – und sind mit den „Unterschieden im Gesundheits-/Krankheitsverhalten“ tief verwoben. Gesundheitsförderung ohne soziales Feld ist genauso blind wie sozialer Ausgleich ohne den Blick auf das Handeln von Personen.

Wie verwoben Belastungen, Ressourcen und Gesundheitsverhalten sind, zeigt die Abbildung. Sie weist auch auf den dominanten Weg, der von den Unterschieden in Wissen, Macht, Geld und Prestige zu den Unterschieden in Krankheit und Sterblichkeit führt.

 

 

Lebensmittel

Lebensmittel sind etwas zum Essen. Es gibt aber auch Lebensmittel, die wir nicht essen können und trotzdem zum Leben brauchen. Besonders Menschen, die es schwer haben, sind darauf angewiesen.

Die Resilienzforschung, die sich damit beschäftigt, was Menschen „widerstandsfähig“ macht, gerade in schwierigen und belastenden Situationen, hat eine Reihe von solchen stärkenden Faktoren gefunden.

Es sind vor allem drei „Lebens-Mittel“, die stärken:

Erstens ist da Freundschaft. Soziale Netze, tragfähige Beziehungen stärken. Das Gegenteil schwächt: Einsamkeit und Isolation. Viele Armutsbetroffene leben wesentlich öfter allein, haben seltener Kontakte außerhalb des Haushaltes und können deutlich weniger auf ein tragfähiges Unterstützungsnetzwerk zurückgreifen.

Das zweite Lebensmittel ist Selbstwirksamkeit. Das meint, dass ich das Steuerrad für mein eigenes Leben in Händen halte. Das Gegenteil davon ist Ohnmacht: das schwächt. Kann man selber noch irgendetwas bewirken, ergibt Handeln überhaupt einen Sinn? Die Erfahrung schwindender Selbstwirksamkeit des eigenen Tuns macht krank. Das sind angesammelte Entmutigungserfahrungen.

Das dritte Lebensmittel ist Anerkennung. Anerkennung und Respekt stärken. Das Gegenteil ist Beschämung. Das wirkt wie Gift. Frau Schöller erlebt das tagtäglich. Sie strengt sich voll an und kriegt nichts heraus. Der belastende Alltag am finanziellen Limit bringt keine „Belohnungen“ wie ein freundliches Wort, besseres Einkommen, Anerkennung, Unterstützung oder sozialen Aufstieg. Eher im Gegenteil, der aktuelle Status droht stets verlustig zu gehen. Dieser schlechte Stress, der in einer solchen „Gratifikationskrise“ entsteht, wirkt besonders bei Menschen in unteren Rängen, die nichts verdienen und nichts zu reden haben. Dauern diese Ohnmachtserfahrungen an, lernen wir Hilflosigkeit: Lass mich erleben, dass ich nichts bewirken kann. Wer feststellt, dass er trotz aller Anstrengungen nichts erreichen kann, der wird früher oder später resignieren und
aufgeben. Der Giftcocktail besteht aus drei Zutaten: aus hoher Anforderung, niedriger Kontrolle und niedriger Anerkennung. Das ist wie Vollgas bei angezogener Handbremse fahren. Gratifikationskrisen lösen starke negative Gefühle aus und gehen mit einer exzessiven Aktivierung des autonomen Nervensystem einher, samt seinen neurobiologischen Folgen. Den Hintergrund bildet eine Stimulation der Hypophysen-Nebennieren-Achse, die mit vermehrter Ausschüttung von Kortikoiden einhergeht. Anerkennung müsste eigentlich unbegrenzt vorhanden sein. Ist sie aber nicht. Sie wird wie Geld zu einem knappen Gut, das sich nach dem sozialen Status und der sozialen Hierarchie in einer Gesellschaft verteilt. Es sind nicht nur die Belastungen sozial ungleich verteilt, sondern auch die Ressourcen, sie zu bewältigen.

Frau Schöller muss viel zu oft Situationen der Einsamkeit, der Ohnmacht und der Beschämung erleben. Wer aus der Armut helfen will, muss Menschen stärken. Mit den drei Lebensmitteln, die man nicht essen kann: mit Freundschaften, Selbstwirksamkeit und Anerkennung.