Die geschlagenen Helden aus der Schlacht um die Heiligen Bandscheiben

Es gibt einzelne Patienten, die mich an Kriegsveteranen denken lassen. Jene mit Orden behangene, stolzen Alten, die vielleicht nur überlebten, weil sie nicht die tapfersten waren (?), was sie nicht hindert, Jahr für Jahr verbissen humpelnd an die Armee-Parade zu gehen mit ihren verwitterten Gesichtern und Uniformen, bei deren bloßem Anblick man den Mief und die Mottenkugeln riecht.

Stimmt, meine Patienten sind nie im echten Krieg gewesen, haben aber als junge Migranten (einige Schweizer sind auch dabei) etwas erlebt, das sie auch traumatisiert haben mag. Sie haben zuhause ab dem zwölften. Lebensjahr geschuftet wie die Esel und sind dann vom Regen ihres Landes in die Traufe des gelobten Landes mit seinen Fabriken und Baustellen geraten. Irgendwann, jenseits der Mitte des Lebens, begann der Rücken zu streiken, und die Einsicht wuchs, dass es sich nicht lohnte, auf dem Schlachtfeld des fremden Landes zugrunde zu gehen. Und das waren die Jahre, wo es nach einigen Scharmützeln mit der weißen Zunft in die entscheidende Schlacht um die Heilige Bandscheibe ging.

Vorher mag es einmal zu einem Sturz vom Gerüst und ein anderes Mal zu einem Quetschtrauma des Fußes gekommen sein. Aber schließlich rappelten sich die Helden nochmals auf und zogen wieder und wieder in den täglichen Kampf an die Schmelzöfen, in die Lagerhallen und Schlachthöfe. Keine Arbeit, die einer ohne Not machen würde. Keine Orden für besondere Verdienste. Ein mit dem Heimatland verglichen mehr als guter Zahltag; dafür auch Rackern, Überzeit am Samstag, Schicht noch dazu. Aber jetzt, wo die Schmerzen im Rücken da waren und die Ärzte nicht mehr zu helfen wussten, wo sich der Schmerz verselbständigte und von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr zunahm, erlahmte die Bereitschaft zu kämpfen für den unsichtbaren Kaiser dieser Gesellschaft, dessen Insignien da sind: Leistung, Fleiß, Tapferkeit. Warum, für wen, wozu? Unterdessen waren auch die eigenen Kinder aus der Schule und brachten Verdienst nach Hause. Und die gleichaltrigen Kollegen im heimatlichen Dorf saßen jetzt wohl nachmittags im Kaffeehaus und hielten einen Schwatz. Hier in der Schweiz weit und breit kein Kaffeehaus, dafür immer häufiger das Wartezimmer des Arztes. Die Arbeitsausfälle nahmen zu, und es häuften sich Berge von Röntgenbildern und Berichten, und nach langem Hin und Her musste die Bandscheibe dran glauben. Wenigstens hatte man eine Übeltäterin gefunden. Das war das Bauernopfer, das der Körper hergeben musste. Die erwartete Besserung trat aber nicht ein, neue Beschwerden stellten sich ein und der „Soldat“, der einst als junger kräftiger Mann mutig auszog in den Kampf, wurde von seinen medizinischen Offizieren in einer Anzahl Rückzugsgefechten von der Front genommen.

Und jetzt – da alles vorbei ist – kommt so einer also in die Sprechstunde und trägt seine Diagnosen wie Orden auf breiter Brust. Kommt und erzählt dir jedes Detail, z.B. von jenem Oktober 1999, wo er sechs Wochen lang im Spital gelegen sei und wo man ihm gesagt habe, „es sehe sehr schlimm aus“. Im Mai darauf sei er an die Arbeit zurückgegangen, aber nur für vier Wochen. Dann nach Hause, Therapie um Therapie, haufenweise Tabletten. Wieder Einweisung wegen Magenproblemen. Jede Station des Kreuzweges wird mit genauesten Angaben der Daten geliefert. Die Namen der Ärzte werden aufgezählt wie die Namen von Generälen. Ja damals, als der Doktor Spina, einer wie ein Kommandant einer Brigade mit einer Stimme, als zöge man in den Krieg, an jenem Abend an sein Bett getreten sei und angekündigt habe, morgen früh werde es ernst, da keimte noch einmal Hoffnung. Aber dann der Aufenthalt in der Reha, ein Verwundetenlazarett mit fremdem Essen und Viererzimmern. Und, und … die Krankheit als Lebensinhalt.

Einer meiner Kollegen meinte dazu: Beruf? Patient! Keine Idee, wie es außerhalb der Krankheit weitergehen sollte. Das müssen – bitte sehr – die Herren Ärzte wissen. Das Kaffeehaus des heimatlichen Dorfes weit weg. Die Dreizimmerwohnung im neunten Stockwerk eines Blockes eine Isolierstation. Zum Glück arbeitet die Frau, dann zankt man sich nicht den ganzen Tag.

Die gleiche Tragik wie bei den Kriegsveteranen: die Geschichte ja nicht loslassen, sie gibt noch etwas Halt. Nach rückwärts leben, Erinnerung pflegen an den großen, starken Kerl, der tagelang und mühelos 50-Kilogramm-Säcke buckeln konnte. Die stete Beteuerung, dass man viel lieber arbeiten würde, als den Tag totschlagen. Ebenso glaubhaft als traurige Erinnerung wie aussichtslos für die Wiederaufnahme einer Arbeit. Ausrangiert wie eben ein Veteran einer geschlagenen Armee. Nie gelernt, sich selbst zu beschäftigen, zu lesen, zu basteln. Früher war der Höhepunkt das Wochenende im Schrebergarten, aber heute, mit diesem Rücken, geht das auch nicht mehr. Der heimatliche Fernsehsender bringt zwar über die Satellitenschüssel etwas Abwechslung. Aber auch hier Entfremdung, denn die Welt in der Heimat ändert sich ebenso rasant und ist ihm bald fremder als die Welt hier. Gestrandetes Treibholz? Alte Gäule, denen man das Gnadenbrot gibt? Gebrochene, früher stolze Männer, deren Rolle anders gedacht war? Sicher auch ab und zu ein Schlitzohr, der unser Rentensystem missbraucht. Aber das ist wohl doch die Ausnahme. Die verlorenen Seelen kamen von irgendwo und finden nun nie mehr ganz zurück zu sich selbst, auch wenn sie ihren Körper ab und zu in die Heimat fliegen lassen.

Manchmal gelingt es, im Gespräch eine visuelle Reise zu machen in eine bessere Welt. Da wird das Gesicht anders, und hinter der grauen Fassade leuchtet es ein wenig auf. Ja doch, das Thermalbad in der Heimat sei das beste in der ganzen Welt. Die Ferien an der albanischen Küste hätten gut getan. Doch, sicher, auf die Kinder sei er stolz, alle hätten Berufslehren abgeschlossen und wollten hier bleiben. Für Minuten führt der Patient den Arzt in seine Welt, ist plötzlich zehn Jahre jünger, lächelt verträumt. Dann zieht der graue Schleier wieder übers Gesicht …

Unveränderter Nachdruck aus: Primary Care, Schweizerische Zeitschrift für Hausärzte, PrimaryCare 2012;12: Nr. 7, 123–124. © EMH Schweizerischer Ärzteverlag AG (EMH), 2010. Mit freundlicher Genehmigung.