Aufgaben und Möglichkeiten in Zeiten der Pandemie: Aussichtsturm und Krähennest

Die hausärztliche Primärversorgung ist der Aussichtsturm des Gesundheitssystems.


Problemstellungen

  • Zu erwarten ist eine gemischte Infektionswelle (diverse Atemwegsinfekte, Influenza, COVID-19). Die klinische Unterscheidung zwischen COVID-19- und Nicht-COVID-19-Infektionen ist praktisch nicht möglich.
  • Kollateralschäden wie in der 1. Welle aufgrund der Fokussierung auf die Unterscheidung COVID/Non-COVID dürfen nicht mehr vorkommen
  • Reduktion nicht nötiger physischer Kontakte im Gesundheitssystem ist weiterhin sinnvoller Teil des Schutzkonzeptes
    • Physische Kontakte sollen dann stattfinden, wenn zum Beispiel telemedizinische Kontakte nicht sinnvoll bzw. zielführend sind
    • Nichtessenzielle physische Kontakte mit nachgeordneten Ebenen im Gesundheitssystem sollten vermieden werden
  • Verbreitung von Infektionen durch Gesundheitspersonal muss vermieden werden


Vorschläge/mögliche Ansatzpunkte aus Sicht der hausärztlichen Primärversorgung

Die hausärztliche Primärversorgung ist systemrelevant und dementsprechend in Planung und Organisation einzubeziehen:

  • Hinsichtlich Funktion und Aufgaben
  • Hinsichtlich Ausstattung


Funktion

  • Erstkontakt
    • Identifikation von Verdachtsfällen, Abklärung, Behandlung
  • Primär patientenführende Stelle
    • COVID-Patient*innen
    • Andere akut Erkrankte
    • Chronisch kranke Personen


Aufgaben

  • Testen symptomatischer Patient*innen
  • Regelversorgung nach guter medizinischer Praxis, alle üblichen Aufgaben der hausärztlichen Allgemeinmedizin entsprechend den üblichen und pandemiebezogenen Hygieneregeln (inklusive ambulant betreute COVID-Erkrankte)
  • Besonderer Fokus auf Chronic Care (Risikogruppen): antizipative Behandlungsplanung, Clearing hinsichtlich Weiterleitungsnotwendigkeit, Telekonsil


Ausstattung

  • Testkapazitäten für symptomatische Patient*innen
  • Einbindung aller Beschäftigten in systematische Testkonzepte für Health Care Workers
  • Schutzausrüstung:
    • Transparente Bedarfserhebung
    • Beschaffungsstruktur für Schutzausrüstung mit individueller Anforderungsmöglichkeit
  • Zutrittssteuerung:
    • Erstkontakt über hausärztliche Primärversorgung
  • Informationsmanagement:
    • verbindliche Befundübermittlung
    • verbindliche Übermittlung von Testergebnissen anderer Teststellen

 

 

Erläuterungen:

Zutritt

Der primäre Eintritt über eine koordinierende Stelle hat sich in der 1. Welle grundsätzlich bewährt (hier: 1450).
Für die 2. Welle müssen allerdings Lerneffekte verwertet werden: Kollateralschäden durch Fokussierung auf COVID und durch Überlastung sind zu vermeiden. Daher:

Der primäre Zutritt sollte für alle gesundheitlichen Anliegen nach Möglichkeit über die Ebene der Primärversorgung erfolgen, wo in 80–90 % der Fälle die abschließende Behandlung erfolgen kann bzw. die gezielte Weiterleitung im Bedarfsfall. Zu erwägen sind folgende unterstützende Strukturen:

  • Zusatzstruktur Corona-Informationshotline für alle Menschen ohne Beschwerden
  • Ersatzstruktur 1450 (Re-Fokussierung auf Triage und Dispatching)
  • Ersatzstruktur, (eventuell) Infektambulanz („out of hours“)

Begründung: 1450 wurde als Anlaufstelle für alle Beschwerden kommuniziert und rezipiert, konnte aber de facto ausschließlich als Clearingstelle für die Initiierung einer Testung fungieren. Zahlreichen Erfahrungsberichten zufolge sind eine Reihe von Kollateralschäden durch lange Wartezeiten und verzögerte Versorgung entstanden.
Der Vorteil der Wahl des primären Ansprechpartners Hausärzt*in liegt auch darin, dass aufgrund meist bekannter Vorgeschichte und Umstände eine raschere und zielsichere Abklärung möglich ist und die Zuständigkeit für alle gesundheitsassoziierten Anliegen die abschließende Behandlung häufig möglich macht.

Da jedoch nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort hausärztliche Betreuung erreichbar sein wird bzw. nicht alle in Österreich lebenden Menschen eine Hausärzt*in haben, ist es sinnvoll, von Beginn an Ersatzstrukturen mitzudenken, die auch bei drohender Systemüberlastung wirksam werden. Eine strukturierte Kooperation der verschiedenen Systempartner ist unerlässlich.

Kontaktreduktion

Die Beschränkung physischer Kontakte bleibt wichtig. SARS-CoV-2 bleibt als Erreger weiterhin relevant, dazu kommt die saisonal übliche Vielzahl an Erregern von Atemwegsinfektionen, die das System zusätzlich strapazieren werden.
Durch Kontaktreduktion in Kombination mit Abstands- und Hygieneregeln sollte sich ein möglichst großer Teil der Infektionen vermeiden lassen. Die Verteilung von Patient*innen auf mehrere verschiedene Behandlungsstellen ist daher nicht wünschenswert. Die gezielte Weiterleitung nur bei Notwendigkeit spart Wege und Kontakte. Dazu sind, neben der erwähnten abschließenden Behandlung innerhalb der Primärversorgung, mehrere Varianten denkbar: telemedizinische Kontakte zwischen Patient*innen und Ärzt*innen aller Ebenen ebenso wie direkte Kontakte zwischen Hausärzt*innen und Spezialist*innen (Telekonsil). Letztere ermöglichen einen umfassenderen Befundaustausch und eine bessere Dokumentation der Konsultationsergebnisse.

Regelversorgung

Wesentlich ist, dass alle Patient*innen eine adäquate Behandlung und Betreuung benötigen: Der jederzeitige und geplante Zugang zur adäquaten Betreuung muss gesichert sein.

  • COVID-Patienten sind krank und brauchen Betreuung; das gilt insbesondere für bekannte Risikopatient*innen, aber auch Patient*innen ohne bekanntes Risiko erleiden Komplikationen. Mit der Beschränkung auf die Entscheidung über eine Testung ist es nicht getan; daher müssen Hausärzt*innen über getestete Patient*innen informiert werden: positiv getestete Patient*innen brauchen Monitoring und Behandlung, negativ getestete sind der differenzialdiagnostischen Abklärung zuzuführen.
  • Andere Akuterkrankungen dürfen weder undiagnostiziert noch unbehandelt bleiben.
  • Chronisch kranke Patient*innen benötigen so wie immer, aber auch als gegenüber COVID besonders vulnerable Personen, sorgfältige Führung und Betreuung.
  • Alle anderen Versorgungsaspekte, wie zum Beispiel die Gesundheitsvorsorge, können nicht ohne Folgen über längere Zeit aufgeschoben werden.

Testung

Die Primärversorgung ist das „Krähennest“ des Gesundheitssystems: dort fallen symptomatische Patient*innen am raschesten auf, und auch die Zunahme eines Infektgeschehens insgesamt wird in der Primärversorgung am raschesten wirksam und damit erkennbar.
Die hausärztliche Primärversorgung muss damit Teil einer einheitlichen und transparenten Teststrategie werden. Testungen müssen – nach Möglichkeit als Point-of-care-Tests (sofort bei Verfügbarkeit geeigneter Testsysteme) – an Ort und Stelle abgenommen werden können, und wenn das nicht möglich ist, durch die Hausärzt*in unkompliziert veranlassbar sein.
Die hausärztliche Primärversorgung kann damit auch einen wesentlichen Beitrag zur ehestmöglichen Aufdeckung neuer Cluster leisten, nicht zuletzt, weil die vertraute Hausärzt*in für viele Menschen niedrigschwellig zugänglich ist.
Die Kenntnis der lokalen Epidemiologie kann, neben der Kenntnis der Patient*innen und der fachlichen Zuständigkeit, wertvolle Unterstützung bei der Testentscheidung liefern.