Autismus-Spektrum-Störungen: Herausforderungen und Diagnostik

In der neuen ICD-11 wird die Autismus-Spektrum-Störung im neu aufgenommenen Kapitel der neuronalen Entwicklungsstörungen gelistet. Hierdurch verändert sich die Diagnose im Vergleich zur ICD-10, wodurch die individuelle neuronale Entwicklung auch in der Erwachsenenpsychiatrie bei jungen Erwachsenen sinnvoll eingebracht werden kann.

ICD-11: neue Diagnose

In der ICD-10 wurden „tiefgreifende Entwicklungsstörungen“ beim Vorhandensein einer qualitativen Beeinträchtigung in den wechselseitigen sozialen Interaktionen, den wechselseitigen Kommunikationsmustern sowie beim Vorliegen eines eingeschränkten, stereotypen und sich wiederholenden Repertoires von Interessen und Aktivitäten diagnostiziert. Auffälligkeiten treten im Kleinkindalter und jedenfalls vor dem dritten Lebensjahr auf. Diverse Subformen konnten dabei bislang unterschieden werden, wie etwa der frühkindliche Autismus mit allen oben genannten Symptomen oder das Asperger-Syndrom mit im Gegensatz zum frühkindlichen Autismus fehlender allgemeiner Entwicklungsverzögerung (beziehungsweise fehlendem Entwicklungsrückstand der Sprache und der kognitiven Entwicklung). Nach der ICD-11 werden nun alle diese Diagnosen unter dem Titel Autismus-Spektrum-Störungen zusammengefasst. Für eine Diagnose sind dabei Einschränkungen in den beiden zentralen Bereichen ausschlaggebend: soziale Interaktion und Kommunikation sowie restriktive, repetitive und unflexible Verhaltensmuster und Interessen. Anstelle der spezifischen Subvarianten in der ICD-10 werden Autismus-Spektrum-Störungen in der ICD-11 nach dem zusätzlichen Vorliegen oder Fehlen einer Störung der Intelligenzentwicklung und nach der Schwere der Beeinträchtigung der funktionellen Sprache unterschieden. Zugleich kann nun der Beginn der Symptome jenseits des dritten Lebensjahrs liegen, beispielsweise wenn erst dann der Umstand eintritt, dass soziale Anforderungen die sozialen Fähigkeiten übersteigen.

Autismus: Entwicklungskontext und Erwachsenwerden

Aus einer Entwicklungsperspektive, die auch die Adoleszenz und das junge Erwachsenenalter einschließt, ist die nun neue Möglichkeit einer Diagnose nach dem dritten Lebensjahr besonders wichtig. Auch verdeutlicht die in den vergangenen Jahren aufgrund der COVID-Pandemie zugenommene soziale Isolation (subjektiv empfundene) persönliche soziale Defizite bei Jugendlichen. Zudem stellt sie junge Erwachsene vor soziale Herausforderungen. Für die „Digital Natives“ ist es die Norm, sich vorrangig im Internet zu Erkrankungen zu informieren. Nicht selten passiert es daher, dass sie noch vor einer Vorstellung in der Praxis mit Autismus-Konzepten in Kontakt kommen. Ein Konzept, das hier besonders hervorzuheben und geläufig ist, ist die Neurodiversität.

Neurodiversität

Das Konzept der Neurodiversität entstand aus dem „Autism Rights Movement“ und wurde bereits vor etwa 25 Jahren geprägt. In Analogie zum Konzept der Biodiversität werden Menschen hier als natürlich unterschiedlich in ihrem kognitiven Set-up und ihren kognitiven Prozessen betrachtet, beispielsweise in den Bereichen Aufmerksamkeit, Lernen, Sensibilität und Stimmungsregulation sowie bei sozialen Kognitionen und Fertigkeiten. Damit werden auch neuronale Entwicklungsstörungen nicht mehr zwingend als rein biologisch pathologisch betrachtet. Während das Konzept nicht unangefochten ist und es keinesfalls dazu verleiten sollte, das Leiden junger Betroffener zu relativieren, wirkt es oft bei der Suche nach einer Identität entstigmatisierend und identitätsstiftend. „Nicht neurotypisch“ zu sein bedeutet nicht unbedingt krank zu sein, sondern einfach, anders zu sein. Junge Leute finden dadurch oft Trost, Erklärungen und auch eine unterstützende Community im Internet.

Autismus-Spektrum-Störungen in der Praxis

Hier gilt es, mit Betroffenen ein realistisches Modell für die eigenen Erlebnisse zu entwickeln und möglicherweise übersteigerte subjektive Wertigkeiten von Symptomen (z. B. bei im Vordergrund stehenden Aversionen gegenüber bestimmten akustischen oder haptischen Reizen) zu hinterfragen. Gemeinsam sollten somit adaptive Wege für den Umgang mit Symptomen gefunden werden. Dies gilt sowohl bei der Autismus-Spektrum-Störung nach ICD-11 als auch bei einem atypischen Autismus nach der alten ICD-10. Dafür braucht es auf Seiten von Behandler:innen vor allem umfangreiches Wissen sowie Offenheit.

Praxismemo

  1. Durch die ICD-11 wurde die Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen deutlich klarer und systematischer gestaltet.
  2. Einschränkungen in sozialer Interaktion/ und unflexible Verhaltensmuster sind für die Diagnose ausschlaggebend.
  3. Nach ICD-11 kann der Beginn der Symptome jenseits des dritten Lebensjahres liegen.
  4. Die ICD-11 erlaubt keine Autismus-Diagnose mehr aufgrund des alleinigen Vorliegens von sozialen und kommunikativen Defiziten.
  5. Das Konzept der Neurodiversität wirkt für die Betroffenen oft entstigmatisierend und identitätsstiftend.