„Dann muss ich die Polizei holen“

Mit Beginn der Pandemie habe ich die Praxisorganisation auf den Kopf gestellt: Seither müssen Patienten einen Termin vereinbaren, den sie für denselben Tag erhalten – ausgenommen Notfälle. Dass das keine Schikane ist, sondern die Patienten schützen soll, haben die meisten inzwischen verstanden, und auch die kürzere Wartezeit wird von den Patienten geschätzt.
Vor wenigen Wochen suchte uns eine Frau in der Ordination auf: ohne Maske, ohne Verletzungszeichen und ohne Hinweis für einen akuten Notfall; wie sich herausstellte, war ihr Wohnort nicht einmal in unserem Einzugsgebiet. Diese Frau wollte eine sofortige Behandlung und weigerte sich, eine Maske aufzusetzen – sie habe schließlich eine Befreiung. Die mehrmalige Bitte, sie möge doch die Praxis verlassen, da sie keinen Termin habe, ignorierte sie – zudem war sie äußerst unfreundlich. Letztendlich sah ich mich gezwungen, die Polizei anzurufen. Während ich dies tat, filmte mich besagte Frau heimlich – auch wie ich eine Familie mit einem Kind mit schweren Vorerkrankungen aus dem Wartezimmer evakuierte, die sich von dieser Person bedroht fühlten. Kurz bevor die Polizei ankam, lief sie davon.
Das Video hat sie daraufhin ins Netz gestellt und auf Social Media geteilt. Die Folge: Hassangriffe, Morddrohungen, negative Online-Bewertungen meiner Praxis, E-Mails gespickt mit Beleidigungen und Beschimpfungen, bis hin zur Androhung man würde meine Kinder „abpassen“. Erfreulicherweise gab es zahlreiche Solidaritätsbekundungen durch Kollegen und Patienten, aber auch durch den Bürgermeister und die Ärztekammer. Die Angelegenheit liegt mittlerweile beim Anwalt.
Wie weit ist es gekommen? Ärzte werden bedroht, weil sie Schutzmaßnahmen einhalten, weil sie ihrer wissenschaftlichen Überzeugung folgen und impfen, weil sie COVID-Tests veranlassen? Wir Allgemeinmediziner sind nicht nur Ärzte, sondern Lebensratgeber, Anlaufstellen in Ausnahmesituationen, manchmal Familienberater, wir begleiten unsere Patienten auf ihrem letzten Weg und trösten die Hinterbliebenen. Durch diesen Vorfall hat sich mein Patientenklientel nun verändert (weniger „Wutbürger“, Coronaleugner und Politikverdrossene); weniger Frequenz habe ich dennoch nicht. Der Ärger verblasst langsam, was bleibt, ist die große Anzahl von Menschen und Institutionen, die mich unterstützt haben. Das bereitet mir unglaublich viel Zuversicht in einer schwierigen Zeit. Ich wünsche allen, die sich in einer ähnlichen Situation sehen, viel Mut und Kraft – möge das Gute mit euch sein!