Die Pandemie hat uns und die Welt weiter im Griff. Wer hätte im Jahr 2020 gedacht, dass das so lange dauert. Zunächst wollten sich alle impfen lassen, aber es wurde nicht gesagt, dass wir dazu einige Monate brauchen werden. So eine Hochschaubahnfahrt macht auch müde. Wir müssen aber lernen, mit Corona zu leben“, sagte der Leiter des Gesundheitspolitischen Forums, Dr. Jan Oliver Huber, in seinem Eingangsstatement zu der Veranstaltung mit Dr. Katharina Reich (Chief Medical Officer, Gesundheitsministerium), Dr. Johannes Steinhart (Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer) und Univ.-Prof. Dr. Christoph Steininger (Infektiologe, MedUni Wien/AKH).
COVID-19 habe aber auch zu einer Polarisierung in der Gesellschaft geführt, so Huber: „Die laufenden Demonstrationen sind überzogen. Wir haben durch eine nicht ausreichende Durchimpfungsrate eine Impfpflicht bekommen. Das Befeuern der Impfskeptiker ist nichts anderes als eine brutale Oppositionspolitik auf Kosten der Menschen. Unser Gesundheitswesen muss aber auch leistungsfähiger in Krisenfällen werden. Wir sind nicht ‚supergut‘ durch die Pandemie gekommen.“
Die Ereignisse der beiden vergangenen Jahre ließ den Wiener Infektiologen Univ.-Prof. Dr. Christoph Steininger zahlreiche, durchaus unangenehme Wahrheiten aussprechen. „Es ist ein Plädoyer gegen das Vergessen. Wir waren schlecht vorbereitet. Wir hatten bereits 2009 eine Pandemie. Wir hatten eine Influenza-Pandemie („Schweinegrippe“, Anm.). Die WHO hat 2011 erklärt: Die Welt sei schlecht darauf vorbereitet, einer schweren Influenza-Pandemie zu begegnen, auch nicht darauf, auf einen ähnlichen, länger andauernden, globalen Gesundheitsnotfall zu reagieren“, sagte der Experte.
Laut Steininger habe es für die COVID-19-Pandemie vor mehr als hundert Jahren wahrscheinlich sogar ein ganz ähnlich verlaufendes Beispiel gegeben: die „Russische Grippe“ ab 1889. „Die Russische Grippe war wahrscheinlich eine Corona-Pandemie. Damals gab es nicht den Luxus einer Impfung.“ Die globalen Erkrankungswellen liefen damals bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hinein.
Man sollte in den kommenden Jahren auch keine rückblickende Verklärung der Abläufe betreiben. COVID-19 habe weltweit zu einem Verlust an Lebenserwartung und zu verlorenen Lebensjahren geführt. Und wenn es zu Beginn der Pandemie eine Knappheit an Bäckerhefe in den Supermärkten gegeben habe, weil die Menschen mehr Zeit fürs Brotbacken oder andere beschauliche Tätigkeiten durch den Lockdown gehabt hätten, seien viele auf der anderen Seite gestanden. Der Infektiologe: „Die Kolleginnen und Kollegen an den Krankenbetten auf den COVID-19-Stationen und Intensivstationen haben das ganz anders erlebt.“ Sie haben nicht plötzlich mehr Zeit für Hobbys gehabt. Sie hatten eine extrem intensive und belastende Zeit – mit weniger Zeit für Familie und Angehörige und unter erschwerten Arbeitsbedingungen.
Steininger: „Wir haben in diesen ganzen zwei Jahren keine Ärzteproteste gehört. Dafür zolle ich den Kolleg:innen sehr, sehr viel Respekt. Die Betreuung von COVID-19-Patient:innen ist keine Magie.“ Aber die Umstände würden die Arbeit erschweren. Dazu gehörten eine Reihe von Belastungen: natürlich das ständige Tragen sehr umfangreicher Schutzkleidung, plötzliche Dienst-(ort-)Wechsel und Ähnliches.
Im Grunde müsse sich die Gesellschaft in Österreich auch fragen, wie es mit der Einstellung zu den Impfungen stehe und wie es zu der derzeitigen Situation habe kommen können. Der Infektiologe: „Bereits 2018 glaubten 21 % der Österreicher:innen, dass Impfungen nicht sicher sind. Das betraf damals Impfungen wie jene gegen FSME, Hepatitis A oder B, die sich jahrzehntelang bewährt hatten. Österreich liegt da im Bereich von Gabun oder Burkina Faso. Das sollte uns nachdenklich machen.“
Nun habe Österreich laut den OECD-Daten nach Deutschland die höchste Anzahl an Intensivbetten pro 100.000 Einwohner. Doch das sei nicht das endgültig Ausschlaggebende, wie der Expert erklärte: „Es geht hier um Menschen, die neben den Betten stehen. Die ‚Ressource Mensch‘ ist die wertvollste Ressource, die wir in einer Pandemie haben. Die bis zum Physischen gehenden Anfeindungen gegen Ärzt:innen machen mich besonders traurig.“
Steiningers Fazit: „Es ist nicht möglich, vorherzusagen, wann die nächste Epidemie kommt. Aber wir können uns vorbereiten. Wir brauchen auch Redundanz im Gesundheitswesen.“
Als einen ständigen Lernprozess mit jeweils mehr oder weniger großen Erfolgen schilderte der Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer, Dr. Johannes Steinhart, den Verlauf der Pandemie. Was Wien betrifft, sei man bei allen Schwierigkeiten für eine Zwei-Millionen-Stadt recht gut über die Runden gekommen. „Wir sind im Februar 2020 in einer kleinen Sitzung in Wien zusammengesessen und haben uns gefragt: ‚Was tun wir jetzt?‘ Eigentlich ist das eine Epidemie“, schilderte Steinhart die Anfänge. Die Wiener Spitäler, der Urologe ist auch Vizepräsident der Wiener Ärztekammer, seien relativ gut vorbereitet gewesen. Gemeinsam mit dem Medizinischen Direktor des Wiener Gesundheitsverbundes und dem Wiener Gesundheitsstadtrat Peter Hacker habe man schließlich beschlossen: „Okay, wir schützen zwei Bereiche: die Wartezimmer und die Ordinationen sowie die Wartezonen und die Ambulanzen in den Spitälern.“
Mit dem Ärztefunkdienst habe es in der Bundeshauptstadt seit Langem eine Struktur gegeben, die man für aufsuchende Arztbesuche rund um die Uhr nutzen konnte. Das Motto, so Steinhart: „Die fahren zu den Infizierten. Es kommt keiner in eine Ambulanz.“ „Ich denke, damit haben wir die erste Welle sehr gut abfangen können. In einem weiteren Schritt haben wir die Ordinationen (in Sachen Patientenfrequenz vor Ort; Anm.) heruntergefahren und gleichzeitig die Versorgung aufrechterhalten. Es blieben 92 % der Ordinationen geöffnet.“ Zwar seien die zeitweise rückläufigen Vorsorgeuntersuchungen etc. ein „Kollateralschaden“ gewesen, aber das habe man erst lernen müssen. „Es ist so gelaufen, wie es gelaufen ist.“
Zu Beginn, so Steinhart, habe sich auch die Österreichische Gesundheitskasse, was die Abgeltung plötzlich rückläufiger Patient:innenfrequenzen bei den niedergelassenen Ärzt:innen betraf, nicht wirklich einsichtig gezeigt,: „Bei der ÖGK herrschte am Anfang wenig Einsicht. Es hat Fächer gegeben, da sind die Honorare auf 20 % heruntergerasselt.“ In einer extrem schwierigen Situation mit teilweise Preisen für eine FFP2-Maske auf dem internationalen Markt von bis zu 35 Euro habe man es schließlich geschafft, für die Ärzteschaft Schutzausrüstung zu kaufen. Gleichzeitig habe man in Wien mit den Impf- und Testcontainern eine zusätzliche Schiene für die Versorgung der Bevölkerung geschaffen. „Ich finde, wir haben für eine Zwei-Millionen-Stadt viel abwenden können“, betonte der ÖÄK-Vizepräsident.
Leider sei man offenbar in Österreich – auch durch mangelnde Einbindung der Ärzteschaft – mit dem Propagieren und Durchführen der Impfungen schließlich in Verzug geraten. „Wir hätten im Herbst 2021 rund 1.000 Kolleg:innen in Bereitschaft gehabt.“ Aber die Abwicklung mit beispielsweise 200 versprochenen, aber dann nur 50 gelieferten Impfdosen hätte zu Problemen und Entmutigung geführt. „Auch die Patient:innen waren frustriert. Bei 25 % Nichtgeimpften waren wohl schon 10 % dabei, die man überzeugen hätte können. Vor einem Jahr wäre das noch gut gegangen.“
Wichtig für Steinhart: „Wir Ärzt:innen müssen für alle da sein und alle versorgen.“ Man müsse auch für die Betreuung von Impfgegnern etc. offen sein. Für die Zukunft: „Wir sind daran gewöhnt, dass Flugzeuge oder Autos redundant gebaut sind, um immer zu funktionieren. Deshalb müssen wir in unser Gesundheitswesen weiter investieren und es weiterentwickeln. Wir müssen Sicherheit und Qualität gestalten. Wir müssen Redundanz bringen. Zu einem funktionierenden Gesundheitswesen gehört auch eine Vorhaltefunktion. Es kann nicht sein, dass wir einen ewigen Sparkurs fahren.“
Dr. Katharina Reich stellte schließlich die Arbeiten der Expertenkommissionen zu COVID-19 dar, die mit Gesamtstaatlicher Krisenkommunikation (GECKO) und Ampel- bzw. nunmehr auch Impfpflichtgremium mittlerweile stabil aufgestellt seien und im Grunde gut funktionierten: „Die Kommissionen sind dazu da, einen Überblick zu verschaffen und sichere Botschaften zu vermitteln. Wir versuchen, die unterschiedlichen Expertisen zu bündeln und zu strukturieren. Das hilft der Politik.“ Im Endeffekt würden dadurch Fachkompetenz der Experten und politische Entscheidungsfindung getrennt. Reich: „Es ist nicht politisch. Wir liefern Grundlagen für politische Entscheidungen. Das ist spannend und interessant. In Wahrheit ist es auch gar nicht so schwierig. Man verlangt von der Medizin nichts Politisches. Das klappt ganz gut.“