Differenzialdiagnostik des Gelenkschmerzes

Schmerzen im Bewegungsapparat sind der weitaus häufigste Grund, einen Arzt aufzusuchen. Welche Hinweise können Schmerzen in der Abklärung dieser Beschwerden liefern? Die Kardinalfrage in der Abklärung muskuloskelettaler Beschwerdebilder ist die Frage nach deren Ursachen, und zwar, ob diese entzündlicher oder nichtentzündlicher Natur sind. Welchen Ast des Rheumabaumes (Abb.) gilt es zu beachten und zu behandeln? Wie unterscheidet man Patienten mit wahrscheinlich selbstlimitierenden Beschwerden von denjenigen, bei denen die Gefahr für eine chronische destruierende Arthropathie groß ist? Anamnese und klinische Untersuchung ergeben in der Regel 90 % der Diagnose. Allerdings ist die Beurteilung aufgrund der Fülle der differenzialdiagnostischen Möglichkeiten anspruchsvoll.

 

Anamnese

Eine umfassende Anamneseerhebung ist für die Beurteilung muskuloskelettaler Schmerzen essenziell. Dabei ist zunächst zwischen akutem und chronischem Schmerz zu unterscheiden. Ersterer ist durch eine Verletzung beziehungsweise Schädigung (zum Beispiel Entzündung) bedingt, seine Intensität korreliert mit dem auslösenden Reiz, seine Lokalisation ist klar bestimmbar, und er erfüllt seine Warn- und Schutzfunktion. Daneben spielt in der Praxis aber sehr häufig der chronische oder – besser gesagt – der chronifizierte Schmerz eine große Rolle. Er besteht abgekoppelt vom auslösenden Ereignis (siehe Fibromyalgie), seine Intensität korreliert nicht (mehr) mit einem auslösenden Reiz, er dauert über übliche Zeit hinaus an und kann oft mehrere Organsysteme betreffen. Zudem hat er seine Warn- und Schutzfunktion verloren und ist von wechselnder Intensität.
Wie bereits erwähnt, ist die zentrale Frage der rheumatologischen Differenzialdiagnose, ob eine entzündliche oder eine nichtentzündliche Ursache der Beschwerden vorliegt. Die Beantwortung dieser Frage benötigt vor allem eines: Zeit. In der Tabelle werden Unterscheidungsmerkmale skizziert. Man kann die Anamnese des muskuloskelettalen Schmerzes auch nach der Regel der vier W erheben: Wann, Wo, Wie und Warum?

 

 

Das „Wann“ sollte unter anderem die Zeit seit dem Auftreten und auch das Tagesmaximum sowie das Vorliegen von Nachtschmerzen erfragen; wichtig ist auch der zeitliche Verlauf – handelt es sich um Dauerschmerzen oder episodische Schmerzen? Die Frage nach dem „Wo“ sollte die Lokalisation, aber auch das Befallsmuster der Schmerzen klären. Der an Fibromyalgie leidende Patient könnte etwa antworten: „Fragen Sie mich, wo es nicht weh tut!“ Von polyartikulären Beschwerden spricht man, wenn fünf oder mehr Gelenke betroffen sind, der Befall von zwei bis vier Gelenken wird als oligoartikulär und der von einem Gelenk als monoartikulär bezeichnet. Es ist zweifellos von großer differenzialdiagnostischer Bedeutung, ob eher Gelenke, Muskulatur oder Sehnenansätze – allein oder in Kombination – betroffen sind. Das „Wie“ erfragt die Schmerzqualität; bestehen gleichzeitig Steifigkeit oder Bewegungseinschränkung, sind die Schmerzen stumpfen, stechenden, brennenden oder auch quälenden Charakters, was immer auch auf eine Nervenbeteiligung hinweist, wie zum Beispiel bei Engpasssyndromen.
Die Frage nach dem „Warum“ soll ein weiteres wichtiges Kriterium untersuchen, und zwar, ob ein Zusammenhang mit Belastung, Bewegung oder auch Temperatur besteht. Auch die Frage, ob sich die Schmerzen eher durch Kälte oder durch Wärme bessern, gehört zu diesem Formenkreis.

Klinische Untersuchung

Durch die anamnestischen Fragen soll eine Unterscheidung zwischen nichtentzündlichen, primär meist mechanisch­ degenerativ bedingten Gelenkschmerzen, und entzündlichen Schmerzen möglich gemacht werden, da sich die Behandlung für die beiden Gruppen doch wesentlich unterscheiden kann. Von mindestens genauso großer Bedeutung ist, dass bei allen Patienten mit Gelenkbeschwerden eine Gelenkuntersuchung im Anschluss an die Anamnese erfolgt. Dabei geht es um das Entdecken von Druckdolenzen der artikulären Strukturen und der periartikulären Weichteile, von Schwellungen und Gelenkergüssen als Zeichen einer entzündlichen Gelenkaffektion; diese können aber auch bei Arthrosen als Zeichen der lokalen Reizung vorkommen. Ebenso werden Einschränkungen der Gelenkbeweglichkeit und -funktion sowie auch eine eventuell vorliegende Hypermobilität in der klinischen Untersuchung erfasst.

Entscheidend ist der Nachweis einer synovitischen Schwellung in der klinischen Untersuchung, denn ansonsten ist die Diagnose jedweder Arthritis unzulässig. Eine synovitische Schwellung fühlt sich palpatorisch in etwa an wie ein mit Wasser gefüllter Wasserball. Die Differenzialdiagnose und – abhängig davon – die entsprechende Diagnostik unterscheiden sich wesentlich, wenn nicht nur Arthralgien, sondern auch Synovitiden vorhanden sind.

Häufige Krankheitsbilder

Arthrose: Im Frühstadium der Arthrose oder – besser bezeichnet – der Osteoarthritis besteht eine Trias aus Anlauf-, Ermüdungs- und Belastungsschmerz; die Morgensteifigkeit ist von relativ kurzer Dauer. Hauptsächlich sind die Knie-, Hüft- und Fingergelenke betroffenen. Die Schmerzcharakteristik entspricht in etwa der des nozizeptiven Schmerzes, mit wechselnden Intensitäten. Im späteren Stadium dieser Erkrankung kommt es zur sogenannten Spättrias mit Dauer-, Nacht- und Muskelschmerz. In diesem Stadium besteht auch eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Funktionsbehinderung.

Nervenengpass-Syndrome – am bekanntesten ist wohl das Karpaltunnelsyndrom – können als Komplikationen zahlreicher Gelenkerkrankungen, aber auch sui generis auftreten. Charakteristisch für diese Erkrankungen ist eine gemischte nozizeptiv-neuropathische Schmerzausprägung mit besonderem Schwerpunkt nachts und auch Temperatur-Missempfindungen.

Bei den seronegativen Spondarthropathien mit Wirbelsäulenbeteiligung stellt der entzündliche Rückenschmerz einen ganz wesentlichen Faktor zur Diagnosefindung dar. Dieser Rückenschmerz entwickelt sich schleichender, hat seinen Beginn meist vor dem 40. Lebensjahr, eine Dauer länger als drei Monate, ist verbunden mit morgendlichem Pessimum und Steifigkeit und, das ist entscheidend, bessert sich durch Bewegung. Das heißt: Die wichtigste Frage an den Patienten ist die, ob eher Bewegung oder Ruhe gesucht wird, um den Schmerz zu lindern. Außerdem ist die Beteiligung von Sehnenansätzen bei diesen Erkrankungen typisch.

Bei den Kristallarthropathien, der Gicht und der Kalziumpyrophosphat-Depositionserkrankung (Chondrokalzinose) ist zwischen der akuten Attacke mit Rötung, heftiger Schwellung sowie Überwärmung und den chronischen, eher langsam progredient verlaufenden Formen zu unterscheiden, bei denen die klinische Symptomatik der einer rheumatoiden Arthritis ähneln kann. Man spricht daher gelegentlich auch von Pseudopolyarthritis (Pseudo-CP).

Bei der rheumatoiden Arthritis (RA) bestehen in der Regel Arthralgien der kleinen Gelenke von nozizeptivem Charakter, häufiger der Zehen- als der Fingergelenke. Diese Arthralgien treten oft auch symmetrisch, mit frühmorgendlichem Pessimum und längerdauernder Morgensteifigkeit sowie einem Kraftverlust auf, der vor allem im Bereich der Hände bemerkt wird. Bis zum Auftreten der für die Diagnose obligaten synovitischen Schwellung kann einige Zeit vergehen. Relativ häufig tritt diese Synovitis in Form einer Monarthritis („Signalgelenk“) in Erscheinung. Eine kleine Anmerkung am Rande: Die Schwellung bei der RA zeigt in den seltensten Fällen eine Rötung.

Bei der Fibromyalgie, einem nichtentzündlichen Schmerzsyndrom, für dessen Genese ein gestörtes Schmerzgedächtnis eine große Rolle zu spielen scheint, stehen großflächige Schmerzen von durchaus auch neuropathischem Charakter im Vordergrund. Diese werden häufig als brennend beschrieben, während Kälte wiederum von den meisten Betroffenen als verschlechternd beschrieben wird. Schwellungen und große funktionelle Defizite bestehen bei der Fibromyalgie nicht; sie wird auch häufig von einer starken Angstkomponente begleitet.

Die Polymyalgia rheumatica kann massive Schmerzen, teilweise mit deutlicher Funk
tionsminderung, im Bereich des Schulter- und Beckengürtels mit Ausbreitung bis zu Ellbogen und Knie verursachen. Typischerweise treten diese Schmerzen plötzlich über Nacht auf und haben ihr Pessimum frühmorgens.
Aufgrund der häufigen Koinzidenz mit einer Riesenzellarteriitis ist auf eventuell bestehende Visusprobleme oder auch Beschwerden beim Kauen besonderes Augenmerk zu legen.

An eine septische Arthritis ist stets bei monoartikulärer Gelenkschwellung zu denken. Nachdem die septische Arthritis den wirklichen rheumatologischen Notfall darstellt, muss eine entsprechende Behandlung erfolgen, solange sie nicht ausgeschlossen werden kann. Bei unklarem Gelenkerguss ist deshalb, außer bei seltenen Kontraindikationen, eine Gelenkpunktion mit Synovialanalyse obligat. Dabei sollte eine Zellzahlbestimmung im Punktat durchgeführt werden, damit zwischen entzündlichem und nichtentzündlichem Erguss unterschieden werden kann. Bei Verdacht auf eine bakterielle Arthritis sollte der Erregernachweis im Grampräparat und in der Kultur erfolgen.

Labor und Bildgebung

Zum Abklärungsalgorithmus für Gelenkschmerzen gehören selbstverständlich orientierende Laboruntersuchungen wie Blutbild, Entzündungs- und Nierenfunktionsparameter sowie weitere Laboruntersuchungen, die, je nach klinischer Notwendigkeit und eher zur Erhärtung der Verdachtsdiagnose als zum Screening, gezielt angefordert werden sollen.
Bildgebende Verfahren unterstützen die Diagnosefindung, wobei je nach Fragestellung zwischen der Anwendung von konventionellem Röntgen, Sonografie und Magnetresonanztomografie zu entscheiden ist. Die Computertomografie und auch die Szintigrafie spielen in der rheumatologischen Diagnostik eine eher zweitrangige Rolle.

Fazit

Das differenzialdiagnostische Spektrum von muskuloskelettalen Beschwerden ist ausgesprochen breit. Wichtig ist das Erkennen von gravierenden Ursachen wie Autoimmunerkrankungen und auch Gelenkinfektionen, aber auch von anderen Erkrankungen wie der Gicht, der häufigsten destruktiven Gelenkerkrankung. Ein rascher Therapiebeginn ist der Schlüssel zu einer besseren Prognose. Dafür sind eine umfassende Anamnese (vor allem eine Schmerzanamnese) sowie die klinische Untersuchung Vor­aussetzungen.