Ein potenziell lebensbedrohliches Phänomen

Anorexia nervosa zählt zu den schwerwiegendsten psychischen Erkrankungen mit der höchsten Mortalitätsrate. Neben der suizidalen Komponente steht dabei vor allem das medizinische Risiko durch Mangelernährung und die Komplikationen der Wiederernährung im Fokus. Der therapeutische Balanceakt besteht darin, unter kontrollierten Bedingungen eine ausreichende Gewichtszunahme zu ermöglichen, ohne ein potenziell lebensgefährliches Refeeding-Syndrom (RFS) zu provozieren. Gerade in den ersten Tagen einer stationären Aufnahme sind klinisches Wissen, strukturierte Abläufe und ein interprofessioneller Ansatz entscheidend.

Malnutrition als Risikofaktor

Zwischen 20 und 50 Prozent der Patient:innen sind bei Aufnahme in ein Krankenhaus malnutriert. Daraus resultieren eine erhöhte Mortalität, gesteigerte Komplikationsraten und längere Spitalsaufenthalte, weshalb eine rasche Etablierung einer adäquaten Ernährungstherapie wichtig ist. Der stärkste Risikofaktor für die Entwicklung eines RFS ist jedoch die vorbestehende Malnutrition.Nicht nur Patient:innen mit Anorexia nervosa können vom RFS betroffen sein. Historisch gesehen wurde dieses Phänomen schon in frühen Kriegsberichterstattungen bekannt, als unklare Todesfälle nach entbehrungsreichen Märschen mit anschließender „Völlerei“ auftraten. Auch durch strenges Fasten bzw. Nulldiät, postoperative Nahrungskarenz, Schwangerschaft mit Hyperemesis gravidarum, Alkoholkrankheit mit einseitiger Mangelernährung, vegane phosphat- und eiweißarme Ernährung und nach länger dauerndem Hungerstreik kann das RFS ausgelöst werden. Eine spezielle Gruppe stellen Patient:innen mit Tumorerkrankungen bzw. Patient:innen unter laufender Chemotherapie mit Schädigung der Darmmukosa, aber auch geriatrische oder demente Patient:innen dar. Besonders zu beachten ist, dass auch adipöse Menschen nach entsprechender Nahrungskarenz ein RFS erleiden können.

Pathophysiologie

Unter physiologischen Bedingungen ist Glukose das bevorzugte Substrat für den Organismus. Davon benötigt der Körper zumindest 100–150 g pro Tag, um glukoseabhängige Gewebe wie das Zentralnervensystem ausreichend zu versorgen sowie einem Proteinabbau vorzubeugen. Kommt es zu einer reduzierten Nahrungszufuhr, wird initial, bedingt durch sinkende Insulin- und steigende Glukagonwerte, Glukose primär auf dem Wege der Glykogenolyse bereitgestellt. Mit zunehmender Dauer einer reduzierten Energiezufuhr werden die Glykogenspeicher entleert, und es kommt in der Peripherie zu einer Steigerung sowohl der Proteolyse als auch der Lipolyse. Ebenso nehmen die Konzentrationen der intrazellulären Elektrolyte, wie z. B. von Kalium und Phosphat, kontinuierlich ab.

Durch die Wiederaufnahme der Nahrungszufuhr führt ein plötzlicher Glukoseanstieg zu einer abrupten Umstellung des Stoffwechsels von Katabolie hin zur Anabolie. Durch die steigende Blutglukose wird umgehend Insulin freigesetzt, wodurch die intrazelluläre Aufnahme von Phosphat, Kalium und Magnesium aktiviert wird. Durch dieses Elektrolyt-Shifting sinken die Serumspiegel extrazellulär ab, sodass Hypophosphatämie, Hypokaliämie und/oder Hypomagnesiämie manifest werden können. Gleichzeitig verursachen die ansteigenden Insulinspiegel durch eine antinatriuretische Wirkung eine Natriumretention. Diese tritt üblicherweise in der Frühphase des RFS auf und kann eine Volumenüberladung, mit Ausbildung von peripheren Ödemen und der Gefahr der kardialen Dekompensation, zur Folge haben.

Bei der Verstoffwechselung der Glukose ist Vitamin B1 (Thiamin) ein wichtiges Coenzym. Die Thiaminspeicher sind bei fehlender Zufuhr nach ca. 3 Wochen geleert. Bei einem plötzlichen Mehrbedarf an Vitamin B1 können durch einen relativen Mangel an Thiamin somatische und/oder neuropsychiatrische Veränderungen bis zu einer Wernicke-Enzephalopathie mit der klassischen Trias Bewusstseinsstörung mit Verwirrtheit, Okulomotoriusstörung und Stand- oder Gangataxie auftreten. Bei einer chronischen Mangelernährung wie bei Anorexia nervosa kann es im Rahmen der Eiweißmobilisierung auch zu einer Reduktion der Herzmuskulatur kommen, die als „small heart“ bezeichnet wird. Patient:innen mit einem hungerbedingten „small heart“ sind bezüglich Herzversagens besonders gefährdet.

Klinik und Diagnostik

Klinisch stellt sich das RFS in Form von kardialen (Herzinsuffizienz, Arrhythmien), pulmonalen (Ateminsuffizienz mit Dyspnoe), neurologischen (Ataxie, Krampfanfälle bis Koma), muskulären (Muskelschwäche bis hin zur Rhabdomyolyse) und hämatologischen (Hämolyse, Anämie) Symptomen dar. Diagnostisch wird ein Elektrolytmonitoring inklusive Phosphat am Tag vor der Nahrungszufuhr sowie täglich innerhalb der ersten Tage im Anschluss an den Beginn der Ernährungsintervention empfohlen.

Prophylaxe und Therapie

Die Grundlage einer erfolgreichen Prophylaxe und Therapie ist zunächst das Wissen und Erkennen des Störungsbildes. Risikopatient:innen sollten identifiziert (Tab.) und klinisch hinsichtlich Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Körpergewicht sowie Hydratationszustand engmaschig kontrolliert werden.

Tab.: Identifikation von Risikopatient:innen für die Entwicklung eines Refeeding-Syndroms

Anhand des regelmäßig gemessenen Körpergewichts (KG) und der Erfassung körperlicher Befunde, insbesondere peripherer und kardialer Ödeme, kann eine potenzielle Flüssigkeitsüberlastung erfasst werden. Ebenso wichtig sind die engmaschigen laboranalytischen Verlaufskontrollen von Phosphat, Kalium, Magnesium und Natrium. Gibt es Defizite im Elektrolyt- beziehungsweise Flüssigkeitshaushalt, sind diese umgehend und v.a. vor dem Nahrungsaufbau durch eine individuelle Substitutionstherapie auszugleichen. Die Parameter sind im Therapieverlauf weiterhin sehr engmaschig zu kontrollieren. Leichtere Hypophosphatämien können oral, schwere müssen intravenös behandelt werden. Vitamin B1 muss über mehrere Tage als wesentlicher Teil der Therapie substituiert werden, Vitamin D3 kann additiv ebenso empfohlen werden.

Eine wichtige vorbeugende Maßnahme zur Vermeidung eines RFS ist die initial niedrige Kalorien- respektive Kohlenhydratzufuhr. Nach der Empfehlung der NICE-Richtlinien sollten bei Patient:innen mit fehlender Ernährung in einem Zeitraum von mindestens 5 Tagen maximal ca. 50 % des Gesamtkalorienbedarfs verabreicht werden. Die Realimentation beträgt daher bei Risikopatient:innen ca. 10 kcal/kg KG pro Tag. Bei ausgeprägter Mangelernährung mit einem BMI < 14 kg/m2 beziehungsweise einer inadäquaten Nahrungszufuhr über 2 Wochen liegt die anfänglich empfohlene Kalorienmenge sogar bei nur 5 kcal/kg KG pro Tag. Die zugeführte Kalorienmenge kann im weiteren Verlauf langsam gesteigert werden, wenn sich keine laborchemischen oder klinischen Manifestationen eines RFS ausbilden.

Anorexia nervosa: konträre Ergebnisse zur Kalorienrestriktion

Neue konträre Ergebnisse zur Kalorienrestriktion als therapeutische Intervention beim RFS zeigen Untersuchungen an Patient:innen mit Anorexia nervosa. Mehrere Studien untersuchten den Effekt von oraler Wiederernährung auf die medizinische Stabilisierung hospitalisierter Personen unter hochkalorischer im Vergleich zu niedrigkalorischer Wiederernährung. Hochkalorische Wiederernährung führte zu einer schnelleren medizinischen Stabilisierung, ohne dass ein RFS häufiger auftrat als in der niedrigkalorischen Gruppe. Trotz dieser widersprüchlichen Ergebnisse bei Anorexia-nervosa-Patient:innen ist die Kalorienrestriktion die empfohlene therapeutische Ernährungsintervention beim RFS. Es bleibt jedoch unklar, ob eine Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Patient:innen mit anderen Ursachen für das RFS besteht.