Herzensangelegenheiten

Wie weit ist der Zusammenhang zwischen kardiologischen und psychischen Erkrankungen in Forschung und Praxis angekommen?

Evelyn Kunschitz: Sowohl das Herz als auch die Psyche sind zwei sehr komplexe Themen, die in Kombination etwa seit dem Jahr 2000 systematisch beforscht werden. Neu ist das Wissen um den Zusammenhang nicht – schon Paracelsus hat darüber geschrieben. Auch Österreich hat hier eine Vorreiterrolle, denn der 1884 geborene deutsch-ungarische Internist Dr. Felix Deutsch gilt als Pionier der psychosomatischen Medizin. Er errichtete die erste Klinik für Organneurosen und widmete sich in seinen wissenschaftlichen Arbeiten der Psychoanalyse und organischen Krankheiten, vor allem den Herzerkrankungen und der Biopsychologie.
Genau genommen braucht man nur auf sich selbst oder die bekannten Metaphern zu hören: „Das Herz hüpft vor Freude“, das heißt, dass positive Emotionen die Extrasystolen spürbar werden lassen. Oft greifen wir uns instinktiv ans Herz, wenn uns etwas sehr nahegeht. Umgekehrt können Ärger, Stress oder Angst körperliche Reaktionen auslösen, an denen das Herz beteiligt ist: Der Puls steigt, das Herz klopft, die Brust kann schmerzen und die Luft wegbleiben.

Welche Rolle spielt dabei die biopsychosoziale Medizin?

Bei Herzerkrankungen haben wir die biologischen Faktoren, also zum Beispiel die genetische Disposition für bestimmte Erkrankungen, wie Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen. Die Psyche kommt ins Spiel, wenn Patientinnen und Patienten auf wenig Ressourcen zurückgreifen können, um Stress gut zu verarbeiten. Sie leiden häufig auch unter kardiovaskulären Erkrankungen und haben hohe Risikofaktoren wie Adipositas oder Tabakkonsum. Zudem können diese Betroffenen kardiovaskuläre Ereignisse meist schwerer verarbeiten, wenn sie schon davor psychisch belastet waren. Fast ein Drittel aller Patientinnen und Patienten hat nach einem Herzinfarkt eine depressive Phase, die rund ein halbes Jahr anhält. Häufig geht die Verarbeitung des akuten Ereignisses mit Angststörungen einher.
Schließlich sind es soziale Faktoren, die Herzpatientinnen und -patienten zusätzlich belasten können, abhängig davon, in welches Umfeld sie eingebettet sind. Die Angst, aufgrund der Herzerkrankung den Job zu verlieren, pflegebedürftig zu sein oder am sozialen Leben nicht mehr teilhaben zu können, spielt hier eine große Rolle.

Welche Rolle übernehmen Kardiologinnen und Kardiologen?

Die Psychokardiologie hat sich als vergleichsweise junges Fachgebiet der Kardiologie etabliert, das sich besonders mit psychosomatischen Fragen im Zusammenhang mit Herzerkrankungen beschäftigt. Dabei wird das gesamte Spektrum des sozialen Umfelds, der privaten und beruflichen Situation eines Menschen, aber auch seine Resilienz im Umgang mit der körperlichen Belastung betrachtet. In erster Linie geht es darum, den Umstand möglicher psychischer Belastungen offen anzusprechen und in der Anamnese darauf zu achten. Dazu gehören Fragen wie: Was für Gefühle werden ausgelöst? Wie geht die Familie mit der Herzerkrankung um? Wie arbeitsfähig sind Sie? Wo im Alltag erfahren Sie Beeinträchtigung? Wichtig ist festzustellen, wann die psychischen Belastungen einen Krankheitswert erreicht haben. Die Zahlen sprechen hier für sich: Etwa ein Drittel der Myokard-Betroffenen leidet an einer generalisierten Angststörung, ein weiteres Drittel an einer länger anhaltenden depressiven Episode und etwa 10 % unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Keine dieser Folgen ist für die Behandlung des Myokardinfarktes förderlich, denn Angst erhöht Puls und Blutdruck, und genau das sollten Betroffene vermeiden.

Wie wichtig ist es, den Zusammenhang zwischen Herzerkrankung und Psyche schon sehr früh zu erkennen und zu therapieren?

Sowohl der Myokardinfarkt als auch Depressionen oder Angststörungen sind nach ICD-10 kodiert. Für die Medizin ist das einfach – wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind, wie etwa der Gefäßverschluss und die Durchblutungsstörung des Herzmuskels, dann werden Medikamente verabreicht, und der Mensch gilt aufgrund von Befunden und Messergebnissen als krank.
Für die betroffenen Personen sieht das aber ganz anders und sehr individuell aus. Manche können ein akutes Ereignis sehr gut verarbeiten und fühlen sich auch nicht krank. Sie nehmen Medikamente, gehen auf Rehabilitation, verändern ihren Lebensstil und kommen damit sehr gut zurecht. Wieder andere entwickeln Angststörungen, leiden an Panikattacken und sind depressiv. Im englischen Sprachraum wird hier zwischen „disease“ und „illness“ unterschieden. Das kennen wir auch im deutschen Sprachraum: „Krankheit“ und „Kranksein“. Kardiologinnen und Kardiologen, Internistinnen und Internisten oder Hausärztinnen und -ärzte sind aufgefordert, sehr früh im ärztlichen Gespräch das psychische Befinden anzusprechen. In den aktuellen Leitlinien der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC)1 zur kardiovaskulären Prävention ist das Thema auch verankert. So wird etwa empfohlen, psychische Störungen, die entweder mit einer erheblichen funktionellen Beeinträchtigung oder einer verminderten Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen einhergehen, als Einflussfaktoren auf das gesamte CVD-Risiko zu betrachten.

Ist eine simultane Therapie sinnvoll, und wie kann sie aussehen?

Nicht nur bei Herzerkrankungen geht es darum, in der Anamnese reflektiert zu kommunizieren und das individuelle Krankheitserleben gut abzufragen. So kann den psychischen Belastungen der erforderliche Raum gegeben werden und etwaige Veränderungen lassen sich einfach erkennen. Hat man den psychischen Bedarf erkannt, ist es wichtig, über ein passendes Netzwerk zu verfügen, um Patientinnen und Patienten zu Expertinnen und Experten zu überweisen. Die Ärztin oder der Arzt des Vertrauens ist immer erste Ansprechpartnerin oder erster Ansprechpartner. Häufig kann mit Information schon im Vorfeld viel abgefangen werden, etwa wenn Betroffene nicht verstehen, welche Behandlungen erforderlich waren, welche Medikamente verabreicht werden oder wie diese einzunehmen sind. Oft beschäftigt die Betroffenen nicht so sehr die Krankheit selbst, sondern die Veränderungen, die damit im Leben einhergehen. Wichtig ist, Bewusstsein zu schaffen, dass nicht jedes Herzklopfen eine Bedrohung darstellt. Wer diesen Informations- und Wissensbedarf in einfacher, verständlicher und patientenadäquater Sprache decken kann, ist schon auf einem guten Weg.

Werden Depressionen psychotherapeutisch behandelt, sinkt auch das kardiovaskuläre Risiko?

Ja, dieser Umkehrschluss ist zulässig! Zu leichten und mittelschweren Depressionen gibt es noch wenige Forschungsergebnisse. Bei Menschen mit länger anhaltenden Depressionen, schizoaffektiven Störungen oder Schizophrenie liegt ein deutlich höheres Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen vor. Psychiatrische Erkrankungen sind immer mit einem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden, die Betroffenen stehen unter dauerndem chronischem Stress. Sie bewegen sich weniger, rauchen mehr und leben insgesamt ungesünder, weil es ihnen schwerer fällt, Lebensstilfaktoren aufgrund ihrer Erkrankung einfach zu verbessern. Oft kommen sie selten oder erst sehr spät zur Ärztin oder zum Arzt und zeigen wenig Selbstfürsorge, sodass auch eine Früherkennung schwierig ist.