Inkontinenztagung: „Der große Schmerz im kleinen Becken“

Die Jahrestagung der Medizinischen Kontinenzgesellschaft Österreich (MKÖ) fand auch heuer wieder im LFI auf der Gugl in Linz statt. Der Besucherrekord von 2013 wurde mit mehr als 300 Teilnehmern eingestellt – nicht zuletzt aufgrund des breiten Spektrums der Präsentationen, die von einer entsprechend vielseitigen Industrieausstellung begleitet wurden. Neben den traditionellen Themen der Inkontinenz für Harn und Stuhl stand „Der große Schmerz im kleinen Becken“ als Motto für diesen Kongress im Vordergrund. Damit wurde berücksichtigt, dass Menschen mit chronischen Beckenschmerzen sich häufig um Rat an die Fachleute für funktionelle Probleme des Beckenbodens und der Beckenorgane wenden. Die hohe Expertise war bei allen Vortragenden gegeben, die sich während zwei Tagen an das Publikum aus ihren Berufsgruppen (Ärzteschaft, Pflegedienst, Physiotherapie, Hebammen) gewendet haben.

Das Chronic Pelvic Pain Syndrome

Am Freitag wurde das vielschichtige Problem chronischer Schmerzen, jener im Becken insbesondere (CPPS = Chronic Pelvic Pain Syndrome), mit dem Einführungsvortrag (H.G. Kress, Universitätsklinik für Anästhesie, Wien) anschaulich dargelegt. Neben den Schmerzen mit morphologisch fassbarem Substrat (z.B. Endometriose, Entzündungen, muskuloskelettale Störungen, Tumoren) wird das Syndrom von unerklärlichen chronischen Schmerzen auch als biopsychosoziales Phänomen geschildert. Die damit assoziierten Beschwerden in den Bereichen von Urogenitaltrakt, Enddarm und Sexualität sind nach einer Dauer von drei bis sechs Monaten als chronisch zu bezeichnen. Leider dauert es oft Jahre, bis Patienten mit einem CPPS die richtige multimodale interdisziplinäre Therapie erhalten, welche auch die seelische und gesellschaftliche Komponente des Leides einbezieht – ein prinzipiell vermeidbarer Zeitverlust.
Auch in der Geriatrie kommt dem biopsychosozialen Schmerzmodell große Bedeutung zu (H. Talasz, LKH Hochzirl), gehören doch Schmerzen (vor allem von Wirbelsäule und Hüften) zu den häufigsten Beschwerden alter Menschen, die dann auch vermehrt von Störungen der Blasenfunktion betroffen sind.
Der Prävalenz der Frauen, die von einem CPPS betroffen sind, wurde durch die gynäkologische Perspektive Rechnung getragen (L.C. Fuith, Gynäkologie, BH Brüder Eisenstadt): 40% der diagnostischen Laparoskopien werden aufgrund chronischer Unterbauchschmerzen durchgeführt. Neben den hier immer wieder genannten Differenzialdiagnosen sind als Ursachen auch psychische Faktoren, z.B. bedingt durch Missbrauch, eventuell in der Kindheit, nicht zu vernachlässigen.
Von den zahlreichen pelvinen Schmerzmanifestationen (z.B. Reizdarmsyndrom, Vaginalsyndrom) ist die interstitielle Zystitis (IC; auch Blasenschmerz-Syndrom = BPS) eine der schlimmsten, welche, beginnend mit der Einschätzung als simpler Harnwegsinfekt, letztlich in einer Zystektomie enden kann. Die IC kann beispielhaft zu den sozialen Problemen von Invalidität und Arbeitsverlust führen, wie in einem Referat aus der Selbsthilfegruppe (C. Rammerstorfer, ICA Austria) ebenso bedrückend wie berührend dargestellt wurde.
Konsequenz: Patientinnen und Patienten mit chronischen Beckenschmerzen sollten so bald wie möglich Fachärzten mit großer Erfahrung und interdisziplinärer Vernetzung zugewiesen werden. Zur Abrundung des Themas wurde die Schwierigkeit einer wissenschaftlich gesicherten Therapie bei CPPS am Beispiel der Physiotherapie in einem Gastvortrag (S. Loving, Schmerzzentrum der Universität Kopenhagen) illustriert: Eine Literaturrecherche konnte aus 3469 einschlägigen Artikeln nur zehn Studien isolieren, die überhaupt Rückschlüsse auf den Stellenwert der Physiotherapie erlaubten, welche als alleinige Behandlungsmodalität noch keineswegs gesichert ist.

Schwangere: Rechtzeitig mit dem Beckenbodentraining beginnen!

Naturgemäß stand die Geburt im Zentrum von Vorträgen über Schmerzen und funktionelle Beschwerden. Von Seiten der Hebammen (B. Theierling, Österr. Hebammengremium) wurde auf den hohen Wert einer professionellen Vorbereitung auf die zu erwartenden Schmerzphänomene schon während der Schwangerschaft hingewiesen. Diese wird kostenlos im Rahmen des Mutter-Kind-Passes zwischen der 18. und 22. SSW angeboten. Dammrisse und Inkontinenz als Folge von Geburtsverletzungen können durch die Tätigkeit der Hebammen deutlich reduziert werden – besonders durch Anwendung der antenatalen digitalen Dammmassage und durch warme Kompressen während der Geburt.
Liegen postoperative Schäden der Beckenbodenmuskulatur vor, wie die lange Zeit wenig bekannte Levatoravulsion, Sphinkterdefekte, Inkontinenz für Harn und/oder Stuhl, so erweist sich ein, im besten Fall schon vor der Geburt begonnenes, Beckenbodentraining (BBT) als sinnvoll. Mit dessen Hilfe wird die Harninkontinenz während der Gravidität und postpartal reduziert, Senkungszuständen wird vorgebeugt.
Konsequenz: Schwangere sollten ermutigt werden, eine Hebamme zur Geburtsvorbereitung aufzusuchen, sowie zeitgerecht mit einem BBT unter physiotherapeutischer Anleitung zu beginnen.
Dammrisse III. und IV. Grades werden unmittelbar versorgt. Viel häufiger aber kommt es bei Geburten zu unbemerkten subkutanen perinealen Rissen der analen Sphinktermuskulatur. Diese manifestieren sich oft erst nach Jahrzehnten in Form einer allmählich entwickelten Stuhlinkontinenz. Auch dann sind Heilung oder substantielle Besserung durchaus möglich (I. Haunold, Chirurgie, BH Schwestern Wien), sei es durch überlappende Rekonstruktion (Sphincter repair), sei es durch sakrale Neuromodulation (SNM), zwei Verfahren, die sich häufig ergänzen.

Hilfsmittel-Update

Der Vortragsblock „Hilfsmittel-Update“ gehörte zu jener Art konzentrierter Wissensvermittlung, welche für Pflegedienst und Ärzteschaft von besonderer Relevanz ist. Unter den Hilfsmitteln ist es der Dauerkatheter, der nach wie vor Anlass zu Problemen geben kann, deren „Tragik“ schon mit dem notorisch hohen Infektionsrisiko beginnt (I. Leiner, Fonds Soziales Wien). Nichtmedizinische Indikationen wie z.B. eingeschränkte Mobilität oder Inkontinenz sind immer zu hinterfragen, und eine ehebaldigste Entfernung des Katheters anzustreben. Ist er unumgänglich, so gibt es genügend Leitlinien, um Komplikationen zu minimieren. Für längere Liegedauer sind Silikonkatheter besser geeignet und müssen alle sechs Wochen gewechselt werden. Die Spülung sollte nicht von außen erfolgen, sondern „von innen“ durch Diurese aufgrund ausreichender Flüssigkeitszufuhr.

„Salons“ sehr beliebt

Großer Beliebtheit bei den Jahrestagungen der MKÖ erfreuen sich die „Salons“, in welchen ein Thema von Referenten und Publikum so aufgearbeitet wird, dass am nächsten Tag dem Auditorium die gemeinsame Lösung als aktuell gültige Meinung präsentiert werden kann. Dies sei am Beispiel der oft gehörten Frage illustriert, „ob Urodynamik und anale Manometrie obsolet“ sind. Die klare Antwort des Salons war „Nein“ (M. Wunderlich, MKÖ). Denn nicht nur haben diese Untersuchungen ihre Berechtigung in komplexen Situationen, vor Operationen, bei neurogener Blase, bei Kindern und aus forensischen Gründen, sondern nicht zu unterschätzen sind auch die didaktische und die magnetische Wirkung. Mit letzterer gemeint ist die Erkenntnis, dass Abteilungen, welche diese Untersuchungen anbieten, naturgemäß eine große Zahl von Patienten zugewiesen bekommen, und auf diese Weise noch mehr Erfahrung sammeln können.

Update zur Stammzelltherapie bei Inkontinenz

Nicht minder reichhaltig war das Programm am Samstag. Die auch in der Laienpresse oft zitierte Stammzelltherapie bei Inkontinenz, wurde mit einem Update verständlich gemacht (E. Hanzal, Universitätsklinik für Gynäkologie, Wien): Aus Biopsien der Skeletmuskulatur (Pectoralis, Biceps) werden adulte Stammzellen, die der Regeneration ihres Gewebes dienen, in einem aufwendigen Laborverfahren gezüchtet und dann in die Sphinkteren um Urethra oder Analkanal injiziert. Die derzeit laufenden Studien werden zeigen, ob dies einst eine akzeptable Alternative zu den etablierten konservativen und operativen Verfahren sein wird.
Neben den landläufigen Ursachen des Schmerzes in der Proktologie (Abszess, Fissur, Hämorrhoidalthrombose) wird immer häufiger ein zunächst unerklärlicher Schmerz durch klinische Untersuchung und radiologische Darstellung einer Nervenläsion als Pudendusneuropathie entlarvt. Deren Behandlung ist oft frustrierend und sollte interdisziplinär erfolgen. (M. Lechner, Chirurgie, KH Göttl. Heiland, Wien).

Qualität in der Medizin

Das Thema „Qualität in der Medizin“ gehört zu den wesentlichen Anliegen unserer Gesellschaft. Eingeleitet wurde es mit dem Vortrag zu neuen Herausforderungen, deren Ziel eine optimale, effektive und effiziente Patientenversorgung ist (G. Schreiber, Quality Austria). Diesen stellt sich die MKÖ mit peinlichst genauen Zertifizierungsprozessen, deren Früchte bei dieser Tagung geerntet wurden: Neu zertifiziert wurden die Kontinenz- und Beckenbodenzentren des Allgemeinen Krankenhauses in Wien und des KH der Barmherzigen Schwestern in Linz. Nach Überreichung der Dekrete wurde Herr Prof. Paul Riss in Anerkennung seiner Verdienste um die MKÖ zum Ehrenmitglied ernannt. In seinem Festvortrag charakterisierte er, was die MKÖ auszeichnet: Interdisziplinarität, Kommunikation, Organisation, Innovation, Kooperation. Dies sind die Voraussetzungen für die Entwicklung unserer Gesellschaft von der reinen Inkontinenzhilfe zu einer breitgefächerten Zukunft der „Beckengesundheit“. Mit dem Thema „Schmerz“ bei der heurigen Jahrestagung hat diese Zukunft begonnen.