Kohlenhydrate und ihre Wirkung

Die Schulung von Patient:innen auf eine definierte Kohlenhydratmenge pro Tag stand bis vor rund 15 Jahren, unabhängig von der Therapieform, im Mittelpunkt der Ernährungsberatung bei Diabetes. Zur Abschätzung der Kohlenhydratzufuhr und zum Austausch kohlenhydrathaltiger Speisen gegeneinander hat sich die Broteinheit (BE) in Österreich etabliert. International wird jedoch die Kohlenhydrateinheit verwendet. Eine Kohlenhydrateinheit, kurz KE, entspricht jener Menge eines kohlenhydrathaltigen Nahrungsmittels oder Getränks, welches 10 g an Kohlenhydraten enthält. Bisherige Broteinheiten- beziehungsweise Kohlenhydrattabellen beschränkten sich auf die Angabe des Kohlenhydratgehalts pro 100 g und der BE-äquivalenten Lebensmittelportion. Der postprandiale Blutzuckerverlauf wird neben der Quantität jedoch auch von der Qualität der Kohlenhydrate maßgeblich beeinflusst, was in den klassischen BE-Tabellen nicht berücksichtigt wurde. Der Arbeitskreis Ernährung und Diabetes des Verbandes der Diätologen Österreichs hat im Zuge einer Neuauflage der Beratungsbroschüre „Kohlenhydrate und ihre Wirkung auf den Blutzucker“ nun erstmalig neben dem Kohlenhydratgehalt in Gramm auch die Qualität der kohlenhydrathaltigen Lebensmittel mittels Ampelfarben und Smileys implementiert. Zur Beurteilung der Qualität wurden auf Basis aktueller Empfehlungen der Fachgesellschaften der Ballaststoffgehalt in Form der Kohlenhydrat-Ballaststoff-Ratio und der glykämische Index (GI) herangezogen.

Benefits der Kohlenhydrateinheit im Vergleich zur Broteinheit

Die Berechnung der Kohlenhydratportion als KE zu 10 g Kohlenhydrat wird im Vergleich zu Broteinheit zu 12 g erleichtert und senkt die Gefahr für mögliche Rechenfehler. Erfahrungsgemäß sind Angaben der Broteinheiten auf Lebensmittelverpackungen nicht immer korrekt. Solche Fehler sind für Konsument:innen irreführend und in ihrer postprandialen Auswirkung von Konsequenz. Kohlenhydrateinheiten können mithilfe der Kohlenhydratangabe in Gramm auf Verpackungen rasch und meist ohne Taschenrechner nachgerechnet werden. In vielen der aktuellen Insulinpumpen- und Glukosemonitoring-Systemen (CSII, CGM und Closed-loop-Systeme) werden gegessene Mahlzeiten direkt in Gramm-Kohlenhydrate eingegeben. Dies vereinfacht das Handling im Alltag und erspart Patient:innen sowie Ärztinnen und Ärzten einen Rechenschritt. Die Harmonisierung an die international übliche Kohlenhydrateinheit bietet zudem die Möglichkeit, Patient:innen mit Diabetes über die Ländergrenzen hinweg zu betreuen. Patient:innen mit Diabetes wurden in ihren ursprünglichen Heimatländern auf das dort meist übliche System mit 10 g Kohlenhydraten geschult. Die Vereinheitlichung auf ein international gängiges System ermöglicht es, auf fremdsprachige Kohlenhydratlisten und Schulungsmaterialien zurückzugreifen. Vorhandene strukturierte Schulungsprogramme aus Deutschland (z. B. PRIMAS®), deren Einsatz in den Leitlinien empfohlen wird, können nun auch in Österreich eingesetzt werden.

Einfluss auf die Therapieeinstellung

Die Entscheidung, welche Therapieform und Berechnungsweise für Patient:innen optimal ist, obliegt dem betreuenden Diabetesteam und sollte individuell getroffen werden. Es gilt zu berücksichtigen, dass bestehende Insulin- zu Kohlenhydrat-Faktoren (z. B. g KH/IE bzw. IE pro KE oder BE) entsprechend ärztlich adaptiert werden müssen, wenn eine Umstellung von einer bereits bestehenden Rechenweise mit 12 Gramm Kohlenhydraten auf 10 Gramm erfolgt (Umrechnung: bisherige Insulinmenge mal 0,8). Die Schulung und Therapieeinstellung auf die Kohlenhydrateinheiten wird in den kommenden Jahren voraussichtlich parallel zum gewohnten System der Broteinheiten verlaufen und für Patient:innen individuell entschieden werden. Sinnvoll erscheint die Schulung auf Kohlenhydrateinheiten vor allem bei Neumanifestationen. Dieses Schulungstool ist für all jene Personen gedacht, für welche die Qualität und Quantität der Kohlenhydratzufuhr von ernährungstherapeutischer Relevanz ist.

„Mithilfe moderner Blutzuckermesssysteme können individuelle postprandiale Blutzuckerverläufe durch Betroffene besser beobachtet werden. Dies erfordert eine Adaptierung und Modernisierung der diätologischen Schulungen.“

Dazu zählen Menschen mit Diabetes mellitus Typ 1, Typ 2, anderen spezifischen Diabetesformen, Gestationsdiabetes und intensivierter Insulintherapie sowie Menschen mit metabolisch assoziierter Fettleber (MAFLD) oder inkretininduzierter Hyperinsulinämie nach bariatrischer OP, weiters sportlich aktive Personen in Phasen, in denen Menge und Auswahl kohlenhydrathaltiger Lebensmittel das Training forciert, beispielsweise in der Vorbereitung auf Wettkämpfe oder im Ausdauersport. Die Kohlenhydrattabelle ist als Bestandteil des Gesamtkonzepts der diätologischen Schulung im Sinne des DSME/S zu sehen. Sie gibt Auskunft über Quantität und Qualität der Kohlenhydrate und ist eine wertvolle Grundlage zur Evaluierung der Kohlenhydratmenge in der individuellen Portion, zudem unterstützt sie Patient:innen in deren Autonomie durch gezielteres Abschätzen der postprandialen Reaktionen konsumierter kohlenhydrathaltiger Gerichte und erforderlicher Therapieinterventionen, wie der quantitativen und zeitlichen Planung der Insulinapplikation.

Weitere Einflussfaktoren

Die Einflussfaktoren auf die Blutzuckerreaktion, die in beiden Qualitätsindikatoren nicht berücksichtigt werden, sind in Form von Expertinnen- und Expertentipps in der neuen Tabelle enthalten. Neben dem Ballaststoffgehalt und dem GI spielen auch der Fett- und Proteingehalt der Mahlzeit, der Vermahlungsgrad des Korns, die Zubereitungsform, die Reihenfolge der gegessenen Lebensmittel und weitere Faktoren eine bedeutsame Rolle.