Komplementärmedizin – Möglichkeiten und Grenzen

Komplementärmedizinische Methoden werden von vielen Patienten nachgefragt, auch und gerade in der Onkologie. Welchen Stellenwert haben sie Ihrer Meinung nach im Therapiekonzept? Wo sind sie zu positionieren?

Dr. Leo Auerbach: Komplementärmedizinische Methoden sind als Bestandteil eines integrativen onkologischen Behandlungsansatzes zu verstehen. Sie werden heute bei einem Großteil der Patienten begleitend zu und nach einer klinischen Therapie – sei es auf Eigeninitiative der Betroffenen oder auf Initiative der behandelnden Ärzte – eingesetzt.

Sie werden begleitend zur klinischen Therapie eingesetzt, sind jedoch nicht als Alternative zu verstehen?

Diese Unterscheidung ist wesentlich! Komplementärmedizinische Therapien werden eingesetzt, um die klinische Behandlung einer Krebserkrankung zu unterstützen.

Welche Behandlungsziele werden mit komplementärmedizinischen Methoden angestrebt?

Im Wesentlichen können hier vier Punkte festgehalten werden: In erster Linie geht es darum, mit komplementärer Begleittherapie die Nebenwirkungen der klinischen Therapien wie Strahlentherapie, Chemotherapie und modernen zielgerichteten und Immuntherapien so weit wie möglich zu reduzieren und das Immunsystem zu unterstützen. Zweitens darum, die Lebensqualität zu verbessern, drittens die Rehabilitationszeit nach klinischer Therapie zu verkürzen und die Rehabilitation zu verbessern und viertens einen potenziellen onkologischen Einfluss auszuüben.

Für welche komplementärmedizinischen Methoden gibt es Evidenz?

Zu vielen komplementärmedizinischen Ansätzen liegen heute wissenschaftliche publizierte Informationen vor. Die Methoden, die wir einsetzen, sind die am besten evidenzbasierten. Von den in Summe über 4.000 verschiedenen Therapieansätzen gilt es für den entsprechenden Tumor und die entsprechende onkologische Therapie – und die zu erwartenden Nebenwirkungen – die besten heranzuziehen.

Wie gehen Sie therapeutisch vor? Welche Therapieansätze kommen für Sie in Betracht?

Entscheidend ist nicht nur die richtige individuelle Auswahl, sondern auch die Sorgfalt, die Menge der komplementären Unterstützung auf das Wichtigste zu konzentrieren, wie zum Beispiel immunstimulative Therapien wie die Misteltherapie, die in Mitteleuropa die häufigste und wissenschaftlich bestuntersuchte komplementäre Therapieform darstellt. Sie zeigt positive Ergebnisse hinsichtlich Verbesserung der Lebensqualität und Leistungssteigerung sowie hinsichtlich der Reduktion von Nebenwirkungen der klinischen Therapien und mittlerweile auch Hinweise auf eine potenzielle onkologische Wirksamkeit.
Ein anderer Schwerpunkt ist der orthomolekulare Ansatz, das heißt Vitamine, Spurenelemente, um freie Radikale zu puffern. Hier kommen vor allem Vitamin D und Selen, auch Coenzym Q10 und Zink – immer in Abhängigkeit von der individuellen Situation – zum Einsatz. Weitere Ansätze sind Cannabis-Produkte und andere pflanzliche Therapien wie Curcuma und Artesiminin. So sind beispielsweise japanische Pilze, wie Maitake und Shiitake-Pilz bereits gut untersucht. Als Leberschutz und „Entgiftung“ wiederum sind Präparate mit Mariendistel, aber auch Vitamin C erste Ansätze. Das Fatigue-Syndrom (Müdigkeitssyndrom), das unter klinischer Therapie auftritt, kann wiederum sehr gut mit hochdosiertem Vitamin C i.v. therapiert werden. Zu beachten ist, dass alle Therapien nicht an den Tagen der Chemo-oder Strahlentherapie gegeben werden dürfen (potenzielle Interaktion mit klinischen Therapien).

Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der begleitenden Therapien?

Die Auswahl erfolgt in Abhängigkeit von der Tumorerkrankung, der klinischen Therapie und dem Beschwerdebild. Die Entscheidungen sind individuell! Welche Tumorerkrankung liegt vor? Welche klinische Therapie bekommt der Patient beziehungsweise die Patientin. Wie sind die Nebenwirkungen? Kann man zu bestimmten Therapien überhaupt eine entsprechende komplementärmedizinische Therapie geben? Curcuma etwa sollte man nicht zu Taxanen geben; auch die Misteltherapie ist nicht für jeden Einsatz geeignet.

Es geht um die individuelle Indikation?

Unbedingt, komplementäre Therapie ist immer individuell! Es geht auch darum, Beschwerden aufzunehmen. Es gibt Patienten, denen es unter klinischer Therapie blendend geht und die möglicherweise nicht alle Angebote oder nur einen Teil davon brauchen. Es bedarf also der Anamnese und des individuellen Einsatzes und der individuellen Dosierung.

Bedarf die komplementärmedizinische Beratung im onkologischen Setting einer spezialisierten Ausbildung und Expertise?

Ja, wer mit komplementärmedizinischen Therapien im Bereich der Onkologie arbeitet, muss wissen, welche onkologischen Therapien im modernen Setting gegeben werden, welche Nebenwirkungen zu erwarten sind. Dieses Wissen ist in Korrelation mit der Kenntnis moderner Forschungsergebnisse zu komplementären Therapien zu setzen. Von der Österreichischen Ärztekammer wird daher seit mehreren Jahren mit dem ÖÄK-Diplomkurs „Begleitende Krebsbehandlungen“ eine spezifische Ausbildung angeboten. Mittlerweile wurde dieser Kurs von mehr als 150 Ärzten erfolgreich absolviert.

Wo sehen Sie die Grenzen der komplementärmedizinischen Methoden?

Die Grenze der Komplementärmedizin liegt a priori darin, dass sie die onkologische Therapie NICHT ersetzen kann und auch nicht ersetzen soll. – Wollte man eine vergleichbare onkologische Wirksamkeit gegenüber klinischen Präparaten postulieren, dann wäre es keine komplementäre Therapie mehr. Dann wäre es von der Nomenklatur her eine onkologische Therapie – klinisch-onkologische und komplementärmedizinische Therapien nebeneinander sind der beste Therapieansatz aus zwei Erfahrungswelten.

Was zählt abseits der therapeutischen Maßnahmen alles zum komplementärmedizinischen Zugang?

Ein ganz wesentlicher Aspekt komplementärtherapeutischer Maßnahmen ist es, Betroffene wieder zu Bewegung zu animieren. Bewegung ist ein wesentlicher Faktor, um die Rehabilitation zu fördern und auch um Nebenwirkungen zu reduzieren. Ein weiterer Faktor neben der Bewegungstherapie ist Ernährung. Auch Fragen der Ernährung sind individuell davon abhängig, welches Problem vorliegt – also individuelle Therapien für individuelle Patienten. Die Verbesserung des Lebensstils als Unterstützung und mögliche Prävention.

Alles, was wirkt, kann auch schaden. Gibt es Kontraindikationen, wo Sie sagen, hier schadet die Komplementärmedizin?

Jede Behandlungssituation kann, wenn sie falsch angewendet wird, theoretisch auch schaden. Selbstverständlich gibt es eine Reihe von komplementärmedizinischen Medikamenten und Behandlungsoptionen, die neben ganz bestimmten onkologischen Therapien kontraindiziert sind und daher nicht angewendet werden dürfen.

Was wären hier Beispiele?

Ein Beispiel ist Johanniskraut, das Hypericin enthält und neben den meisten Chemotherapien NICHT gegeben werden darf, weil es die Wirksamkeit der Chemotherapie reduziert. Ebenso reduzieren Vitamine und Spurenelemente während der Strahlentherapie die Wirkung der Strahlentherapie und werden daher nicht begleitend zu einer solchen gegeben. Curcuma bei Taxantherapie reduziert die Wirkung. Der behandelnde Arzt muss die Interaktionen kennen und Bescheid wissen, welche Therapie nicht gegeben werden darf.

Machen Sie jeder Patientin ein komplementärmedizinisches Therapieangebot? Wie stark wird es Ihrer Beobachtung nach von Patientinnen nachgefragt?

In Österreich ist die Onkologie meist zentrenbasiert. Dass parallel zur klinischen Therapie standardmäßig auch komplementärmedizinische Maßnahmen zur Behandlung der Begleitbeschwerden angeboten werden, ist nicht überall Routine. Die meisten Krebserkrankten beschäftigen sich jedoch intensiv mit ihrer Erkrankung, beginnen zu recherchieren und kommen damit – meist übers Internet – unweigerlich mit begleitenden, komplementären und alternativen Ansätzen in Kontakt. Heute fragen praktisch alle Krebspatienten irgendwann – sei es im niedergelassenen Bereich oder bei Spezialisten für Komplementärmedizin oder bei onkologisch tätigen Ärzten – nach, was sie selbst tun können. Während der Patient bei der Wahl der onkologischen Therapie wenig Einfluss hat – er kann sie ablehnen, aber in der Regel nicht auswählen –, empfinden die meisten Patienten komplementärmedizinische Maßnahmen als individuelle Eigeninitiative – „Ich tue etwas für mich“, „Ich möchte meine Situation verbessern“.

Erklärt sich das letztlich über Konzepte der Selbstwirksamkeit bis hin zu Konzepten der Selbstheilung …?

Ich glaube schon, dass man selbst viel dazu beitragen kann, um eine Erkrankung zu überstehen; möglicherweise auch um sie zu bekommen. Ich glaube, dass es immer um den ganzen Menschen geht und wir daher viele Aspekte berücksichtigen müssen – auch bei Therapien. Ob das tatsächlich ausreichen kann, um eine schwere Erkrankung, die anders nicht heilbar ist, zu heilen, würde ich als Wunschdenken sehen. Mit der eigenen Einstellung kann man auch Einfluss nehmen. Es macht einen Unterschied, wie der Patient mit seiner Erkrankung umgeht und was er tun kann.

Wie wichtig ist die Kooperation mit Onkologen?

Komplementäre Therapien sind auch mit dem Onkologen zu kommunizieren und auch zu diskutieren. Für ganz entscheidend halte ich es, Patienten nicht zwischen zwei Polen hin und her zu hetzen. Man muss einen gemeinsamen Weg gehen, ansonsten verliert der Patient das Vertrauen in die Behandlungssituation, und das würde der Salutogenese nicht helfen. Eine meiner zentralen Botschaften ist daher, den Patienten NICHT als „Punchingball“ zu verwenden. Eine Zwickmühle für den Patienten muss vermieden werden.

Sie halten Rücksprache mit Onkologen? Erfolgt das auch umgekehrt?

Der Wissenstransfer ist in beide Richtungen von Relevanz. In den letzten Jahren haben wir seitens der Komplementärmedizin, auch weil es zunehmend Daten und Studien gibt, viel Informationsarbeit auch in der Onkologie geleistet, umgekehrt brauchen wir die Informationen etwa über moderne Immunotherapien und fragen nach, ob die Kollegen hier Erfahrungen mit zusätzlichen komplementärmedizinischen Methoden haben. Die Entscheidungen treffen wir dann gemeinsam mit den Kollegen – und der Patientin oder dem Patienten.

Wo sehen Sie insgesamt – abgesehen von der Onkologie – den Einsatzbereich komplementärmedizinischer Methoden?

Ich glaube, dass die Domäne der komplementärmedizinischen Therapien vor allem bei chronischen Erkrankungen liegt. Als zweiter wichtiger Aspekt ist die Prävention anzuführen: Auch da sind es letztlich komplementärmedizinische Fragestellungen, die eine große Rolle spielen: Bewegung, Lifestyle, Ernährung et cetera.
Beispiele für den Einsatz komplementärmedizinischer Maßnahmen bei chronischen Krankheiten wären Reizdarm, Erkrankungen mit allergischen Komponenten, aber auch chronische Schmerzen und persistierende Virusinfektionen – wir haben beispielsweise vermehrt Anfragen wegen HPV-Infektionen.

Haben Sie auch Anfragen zu Corona? Und was würden Sie antworten?

Anfragen gibt es. Aber wir wissen ja heute noch nicht einmal, wie die meisten Corona-Erkrankungen ablaufen. Selbst die großen Studien zu den klinischen Therapien sind ja in den ersten Datenerhebungen teilweise noch widersprüchlich. Natürlich könnte man vom theoretischen Ansatz her versuchen, hochdosiertes Vitamin C zu geben, derzeit gibt es jedoch noch keine ausreichende Evidenz. Es gibt derzeit kein Datenmaterial, das für eine permanente Vitamineinnahme einen Nutzen beweisen würde; weder bei Influenza noch in der Prävention von Krebserkrankungen. Auch Vitaminsupplementation sollte daher gezielt – bei entsprechender Indikation – gegeben werden. Abgesehen von Vitamin-D-und Selen-Spiegel, die in Österreich praktisch bei der überwiegenden Mehrzahl der Menschen zu niedrig sind, ist eine Supplementation anderer Vitamine und Spurenelemente nur bei klarer Indikation indiziert.

Das führt wieder zurück zur schon erwähnten Notwendigkeit der Indikation …

Ja, es geht um eine Indikation für eine komplementärmedizinische Maßnahme und um die Seriosität in der Behandlung.

 

Vielen Dank für das Gespräch!