„Psychosomatische Kompetenz“ hieß das heurige Themader ÖGPAM-Tagung, die zum 10. Mal in Kontinuität in Salzburg stattfand.
Kontinuität verweist auf Beständigkeit, kann auf Erfahrung zurückgreifen und schafft Raum für Zukünftiges, für Neues. Kontinuität ermöglicht auch Sicherheit, so wie wir es in unserem Alltag in der uns eigenen fachspezifischen Weise unseren Patient:innen vermitteln. Die verlässliche, also kontinuierliche ärztliche Beziehung, die typisch für die allgemeinmedizinische Versorgung ist, kann die Zusammenhänge von Psychischem und Somatischem in unterschiedlichen Gesprächssituationen parallel berücksichtigen.
Der Tagungstitel „Psychosomatische Kompetenz“ macht darauf aufmerksam, dass es gilt, Erfahrungen und Fertigkeiten von Ärzt:innen für Allgemeinmedizin sichtbar zu machen und weiter zu vertiefen. Seit inzwischen 10 Jahren sind wir als ÖGPAM bestrebt, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf unsere Anliegen zu lenken, dass nämlich die psychosomatische Medizin innerhalb der Allgemein- und Familienmedizin ein zentrales Thema ist und dass die Allgemeinmedizin für dieses Thema primär zuständig ist.
Dieses Selbstverständnis ist derzeit wichtiger denn je. Aktuell wird in verschiedenen gesundheitspolitischen Projekten auf die Notwendigkeit der psychosozialen Versorgung hingewiesen und gleichzeitig den psychosomatischen Themen weniger Raum gegeben. Deswegen ist es notwendig, unsere alltäglich gelebte allgemeinmedizinische biopsychosoziale Praxiskompetenz nach innen und nach außen sichtbar zu machen (siehe u.a. ÖGAM-Praxissiegel, durch PSY-Diplome, in der neuen Facharztausbildung, in Balintgruppen, bei Tagungen sowie Statements in Arbeitsgruppen etc.).
Mit viel Freude konnten wir heuer die Teilnehmer:innen der Tagung sowohl in Präsenz als auch virtuell begrüßen. Es ist eine gute Übung, beide Räume – den realen und den virtuellen Raum – in geteilter Aufmerksamkeit parallel zu berücksichtigen. Diese geteilte Aufmerksamkeit benötigen wir auch im Gespräch mit unseren Patient:innen, wenn wir Psychisches und Somatisches gleichzeitig und gleichwertig beachten wollen.
Um Zusammenhänge zwischen dem Psychischen und Somatischen erfassen zu können, ist es laut Winnicott hilfreich, neben dem Wirklichkeitsraum uns ebenfalls Zugang zu Möglichkeitsräumen zu verschaffen. Hier können dann sogar offene Fragen ihren Raum finden. Es geht also nicht um den Gegensatz „entweder psychisch oder somatisch“, sondern um die kompatible Ergänzung beider Aspekte in einem Sowohl-als-auch. Das Entweder-oder-Denken birgt im Arzt-Patienten-Gespräch die Gefahr, sich in „geschlossene Denkräume“ zu flüchten, die keinen Diskurs mehr zulassen.
Psychosomatische Kompetenz bedarf einer Haltung, die um ihren fachlichen Boden weiß. Sie sucht nicht nur nach Erklärungen und Ursachen, sondern ermöglicht den Blick auf Zusammenhänge, unterscheidet Veränderbares von Unveränderbarem, berücksichtigt Verfügbares und Nichtverfügbares und die Zusammenhänge von Körper, Psyche und der individuellen Lebenswelt der Patient:innen. Laut Michael Balint sollten wir uns klar darüber sein, dass es der größte Wunsch aller Patient:innen ist, verstanden zu werden. Diesen Wunsch können wir neben der somatischen Befunderhebung in unser ärztliches Gespräch miteinbeziehen.
Die dafür nötige Zeit wünschen sich Patient:innen wie auch Ärzt:innen. „Ohne Zeit können wir keine gute Medizin betreiben“, wie der Medizinethiker und Philosoph Giovanni Maio treffend anmerkte. Mit Kompetenz gilt es auch, im allgemeinmedizinischen Praxisalltag immer wieder für den notwendigen Zeitrahmen zu sorgen. Es ist Aufgabe der gesundheitspolitisch Verantwortlichen, die dafür erforderliche finanzielle Sicherheit zu schaffen. Die nicht vorhandene Zeit darf nicht zur selbstverständlichen Gepflogenheit in der Regelversorgung werden. Ausreichend vorhandene Zeit sollte nicht nur ein Privileg im kassenfreien Raum sein oder durch die Zuweisung zu anderen Berufsgruppen zur Verfügung stehen.