Orthopädische Probleme in der allgemeinmedizinischen Praxis

In einer allgemeinmedizinischen Praxis gibt es eine Regelmäßigkeit der Fallverteilung, die seit dem Jahr 1955 (R. N. Braun) immer wieder statistisch-wissenschaftlich aufbereitet wird. Es handelt sich hier selten um Diagnosen, sondern vielmehr um Fälle (Symptome oder Symptomgruppen, Krankheitsbilder). Die häufigsten 100 Fälle machen beinahe 80 %, die häufigsten 200 bereits 93 % der Patient:innen in einer allgemeinmedizinischen Praxis aus (Mader, Riedl: Allgemeinmedizin und Praxis. Springer, S. 5 ff). Bei den 100 häufigsten Beratungsanlässen betreffen immerhin 20 den Stütz- und Bewegungsapparat.

Die Betreuung von Menschen mit Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates hat in der Hausarztpraxis somit schon allein wegen der Häufigkeit einen hohen Stellenwert. Die postpromotionelle Ausbildung von Ärzt:innen erfolgt bekannterweise großteils in Krankenhäusern – hier werden Menschen vornehmlich mit schweren pathomorphologischen Veränderungen zur operativen Rekonstruktion vorstellig. In der niedergelassenen Praxis werden Ärzt:innen dann mit Krankheitsbildern konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet sind. Durch die Implementierung der sechsmonatigen Lehrpraxis in der Ausbildung zur Allgemeinmediziner:in seit 2015 hat sich die Situation etwas gebessert.

„Apparatediagnostik“ wird sehr stark eingesetzt: eine Überweisung zu schreiben ist bequem, juristische Überlegungen sind natürlich von Bedeutung. Auch bei orthopädischen Krankheitsbildern gibt es Red Flags − diese darf man natürlich nie aus den Augen verlieren. Leider klaffen jedoch häufig radiologischer Befund und klinische Relevanz weit auseinander. Anamnese und klinische manuelle Diagnostik sind zumeist nicht nur richtungsweisend, sondern zur Erstellung einer „Diagnose“ ausreichend. Die manuelle Diagnostik ist eine Grundfertigkeit und umfasst Strukturpalpation, Schmerzpalpation, Funktionsuntersuchungen und Provokationstests. Bei akuten Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates muss Reizabbau erfolgen. Bei chronischen Beschwerden müssen hingegen Reize gesetzt werden – jeweils idealerweise mit verschiedenen Methoden aus manuellen und physikalischen Therapien, die Trainingstherapie ist beinahe immer indiziert.

Mich persönlich hat der Bewegungsapparat schon immer interessiert, bereits während der Turnuszeit habe ich begonnen, zahlreiche Ausbildungen in diese Richtung zu absolvieren. Das kommt mir nun im Praxisalltag zugute, da ich einen Großteil der orthopädischen Patient:innen selbst therapieren bzw. zumindest im Diagnose- und Therapiegang selbst führen kann.

Interviews

Ich habe drei meiner aktuellen Lehrpraktikant:innen zum Thema „Stellenwert der Orthopädie in der Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin“ interviewt.
In abgekürzter Form bzw. in Form von Schlagwörtern darf ich die Antworten auf meine drei Fragen anführen:

Dr. Ecker: Welchen Stellenwert hatte im Rahmen der Ausbildung zum Allgemeinmediziner die Orthopädie? Wie wurdest Du auf orthopädische Problemstellungen vorbereitet?

Antworten:

  • leider geringer Stellenwert
  • Ich musste mich zwischen Unfallchirurgie und Orthopädie entscheiden, Ausbildung auf der Unfallchirurgie hat dann Relevanz, wenn die Praxis sich in gewissen Regionen (Skiregionen) befindet.
  • Ich wurde auf der Orthopädie großteils als Stationsärztin/Stationsarzt eingeteilt – musste also internistische Krankheitsbilder lösen.
  • Ich habe kaum Zeit auf der Ambulanz verbracht.
  • Ich wurde oftmals als zweite Assistenz bei TEP-Implantationen eingesetzt.
  • Im stressigen Klinikalltag hatte kaum jemand Zeit und Interesse, über ambulante Betreuung von orthopädischen Patient:innen zu sprechen.
Dr. Ecker: Du hast sechs Monate Lehrpraxis absolviert bzw. bist gerade mittendrin: Welche Bedeutung misst Du orthopädischen Problemstellungen in der Hausarztpraxis bei?

Antworten:

  • große Bedeutung in der Hausarztpraxis
  • häufiger Konsultationsgrund
  • einer der häufigsten Gründe für Krankmeldungen
  • orthopädische Probleme als riesengroße Herausforderung für die Hausärztin/den Hausarzt, da oftmals chronische Krankheitsbilder mit all Schwierigkeiten
  • klinische Untersuchung hat einen hohen Stellenwert, Bildgebung ist oft nur ein Hilfsmittel
  • Orthopädische Problemstellungen zu betreuen bedeutet mehr, als nur NSAR zu rezeptieren – es erfordert viel Wissen und Erfahrung.
  • Ein Netzwerk an Fachärzt:innen und orthopädischen Abteilungen ist wichtig; aufgrund der langen Wartezeiten dort muss man den überwiegenden Teil der Patient:innen selbst betreuen und führen.
Dr. Ecker: Konntest Du das Defizit an orthopädischer Ausbildung mittlerweile etwas nachholen? Wie? Hast Du auf Eigeninitiative Fortbildungen in Richtung Orthopädie/Management für Probleme des Bewegungsapparates absolviert?

Antworten:

  • laufende oder zumindest geplante Ausbildung in manueller Medizin und Infiltrationskursen
  • zunehmende Erfahrungen mit konservativer Orthopädie in Rahmen der Lehrpraxis
  • Verschiedene Quellen der Fortbildungen für Allgemeinmedizin – Orthopädie ist hier allerdings immer unterrepräsentiert, da ein „praktisches Fach“ kaum in einem Artikel darstellbar ist.

Fazit

Man kann es den Krankenhäusern nicht verübeln, dass mit der derzeitigen Struktur und dem Personalstand die orthopädische Ausbildung der zukünftigen Hausärzt:innen nur suboptimal ist. Um in einer eigenen Praxis orthopädisch fit zu starten, gibt es für Jungärzt:innen – realistisch gesehen – nur zwei Möglichkeiten:

  • frühzeitig beginnen, Diplomausbildungen wie Manualmedizin, Akupunktur oder Sportmedizin zu absolvieren. Zudem Teilnahme an Fortbildungen, wie z. B. den Infiltrationsworkshop der STAFAM (Steirische Akademie für Allgemeinmedizin).
  • In der Lehrpraxis möglichst viel „mitbekommen“ – sechs Monate Lehrpraxis ist die Mindestdauer.