„Psychosoziale Pandemie braucht größere Beachtung in der Gesellschaft“

„Jeder kennt jetzt schon einen, der von der COVID-19-verursachten psychosozialen Pandemie betroffen ist – jeder vierte Österreicher beklagt eine coronabedingte psychische Belastung“, so der Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Musalek. Dabei ist die psychische Belastung keineswegs das Ergebnis der wirtschaftlichen Probleme, sondern vor allem durch die COVID-19-Maßnahmen verursacht. Mehr als ein Drittel der Befragten leidet unter dem ­Corona-Maßnahmenpaket. „Es ist davon auszugehen, dass zumindest ein Teil der psychisch erkrankten Menschen in besonderem Maße von der psychosozialen Pandemie betroffen ist. Darüber hinaus ist damit zu rechnen, dass bislang nicht erkrankte Menschen ebenfalls psychische Erkrankungen in der Folge der psychosozialen Pandemie entwickeln werden. Es braucht daher verstärkt Maßnahmen, um diese rasch um sich greifende Krise zu bewältigen, wie zum Beispiel psychosoziale Krisenstäbe, niederschwellige Erstberatungsangebote und wie die Corona-Sorgenhotline Wien“, meint der Chefarzt der „Psychosozialen Dienste Wien“, Dr. ­Georg Psota. Bereits im Frühjahr 2020 wurde daher in Wien ein psychosozialer Krisenstab gegründet, der eine Reihe von Maßnahmen, wie zum Beispiel die Corona-Sorgenhotline Wien, initiiert hat.

Soziale Distanz als „Unwort“ des Jahres

Das soziale Verhalten zwischen den Menschen deckte auch im Rahmen der Umfrage einen großen Teil ab. „Das Unwort des Jahres ist die vielerorts noch immer verordnete ,soziale Distanz‘; ganz im Gegenteil: Wir brauchen zwar körperliche Distanz, aber psychosoziale Nähe, um die Krise bewältigen zu können – nur gemeinsam können wir diese Krise zum Besseren wenden“, mahnt Musalek.

„Es braucht zielgruppenspezifische Maßnahmen – auf wirtschaftlicher, aber besonders auf psychosozialer Ebene. Denn ein fundamentales Grundbedürfnis eines jeden Menschen ist es, in Beziehung zu anderen zu sein“, erklärt Mag. Dr. Oliver Scheiben­bogen, Stv. Vorstand des Instituts für Sozialästhetik und psychische Gesundheit der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Menschen halten kurzfristigen Stress und Belastungen wunderbar aus. Chronische Belastungen wie Sorgen und Ängste bewältigt der Mensch nur dann gut, wenn er sich stark fühlt. In der Psychologie wird dieses Phänomen „Selbstwirksamkeitserwartung“ genannt. „Gerade deshalb muss in der öffentlichen Krisenkommunikation genau darauf geachtet werden, uns Menschen immer wieder zu bestärken und zu motivieren“, sagt Scheibenbogen. „Entscheidungsträger dürfen daher nicht dem Irrglauben anheimfallen, dass das Heraufbeschwören von Bedrohungen ein adäquates Steuerungsmittel sei.“

Die Studienergebnisse belegen deutlich, wer besonders von der Krise betroffen ist. Es besteht die Gefahr der Vereinsamung und der Entstehung psychischer Erkrankungen. Durch die COVID-19-Maßnahmengesetze empfindet die Bevölkerung einen massiven Verlust beziehungsweise eine Aufgabe der Selbstbestimmung. Dadurch liegen auch bei vielen Menschen die Nerven blank, und sie sind reizbarer. Die Angst ist ein typischer Begleiter in jeder Krise. Fast jeder zweite Österreicher gibt an, im Zusammenhang mit der Coronakrise Zukunftsängste zu haben. Dabei leiden mehr Frauen als Männer an generalisierter Angst.

Ein weiteres Thema dabei ist, dass die Lebensfreude verloren geht und damit auch die psychische Gesundheit. Ein Drittel der Befragten beklagt dabei im Zusammenhang mit der COVID-Krise den Verlust von Lebensfreude, bei den durch die Krise psychisch Belasteten sind es etwa zwei Drittel. Weitere Aspekte dabei sind auch Alkohol und Tabak als „Krisenbewältiger“. Ein Sechstel der Befragten berichtet, dass sie in der Krise vermehrt Alkohol zu sich genommen haben. Ein Drittel gibt an, vermehrt Nikotin zu konsumieren. „Nach all den bisherigen Erfahrungen befindet sich die psychosoziale Pandemie erst am Anfang – der Zenit ist keineswegs erreicht. Es ist im kommenden Jahr noch mit einer deutlichen Verstärkung zu rechnen – die psychosoziale Pandemie wird die Herausforderung des kommenden Jahres –, es braucht all unsere gemeinsame Kraft, sie in den Griff zu bekommen“, so Musalek abschließend.