Mikrobiomforschung: ein aktueller Überblick

Milliarden von Mikroorganismen bilden beim Menschen das Mikrobiom. Es besiedelt den Darm genauso wie andere innere Organe, die Haut und die Nasenhöhle. Die Mikroben leben in einer engen Symbiose mit dem Wirt und beeinflussen die Körperfunktionen. Sie können sich dabei auch zum Krankheitserreger entwickeln. Weitaus die meisten Bakterien befinden sich im Gastrointestinaltrakt, wobei der Darm nicht nur die höchste Bakterienzahl aufweist1 (die Bakteriendichte beträgt im Magen 103 und im Kolon 1012)2, sondern sich die Besiedelung auch weitreichend auf die Gesundheit auswirkt.1 Das Darm-Mikrobiom ist an zahlreichen Stoffwechsel- und Immunfunktionen beteiligt. Dazu zählen der Erhalt der Darmbarriere, der Schutz gegenüber pathogenen Mikroorganismen, der Abbau unverdaulicher Nahrungsinhaltsstoffe, die Modulation des Stoffwechsels sowie die Modulation des gastrointestinalen Immunsystems.2

Wesentlich für die Einflüsse des Mikrobioms sind die bidirektionalen Achsen im Körper:

  • Darm-Leber-Achse: Die beiden Organe stehen in anatomischem und funktionellem Zusammenhang. Eine funktionierende Darmbarriere reguliert den Übertritt von bakteriellen Produkten und Zytokinen, die über die Pfortader in die Leber gelangen. Störungen entlang dieser Achse – ausgelöst etwa durch eine Dysbalance des Darm-Mikrobioms oder erhöhte intestinale Permeabilität – führen dazu, dass vermehrt bakterielle Bestandteile in die Zirkulation kommen, die in der Leber zu Entzündungsreaktionen führen können. Der derzeitige Stand der Forschung zeigt, dass eine Dysbiose in Zusammenhang mit verschiedenen Lebererkrankungen steht. Dazu zählen die nichtalkoholische Fettlebererkrankung (NAFLD), die primär sklerosierende Cholangitis (PSC), die primär biliäre Cholangitis (PBC) und die Leberzirrhose. Das in Untersuchungen ermittelte abnorme Mikrobiom bei Patienten mit alkoholischer Fettlebererkrankung könnte auf eine Rolle der Darmbakterien in der Pathogenese hinweisen. Es existiert jedoch auch die Theorie, wonach Leberkrankungen als Ursa che für eine intestinale Dysbiose auftreten („chicken-egg-problem“).8
  • Darm-Hirn-Achse: Es handelt sich um eine wechselseitige Interaktion des Gehirns mit Organen des Magen-Darm-Traktes. Die Interaktion findet über Hormone, Botenstoffe von Immunzellen und Darmbakterien statt. Die durch das Mikrobiom produzierten kurzkettigen Fettsäuren Butyrat, Propionat und Acetat können die Blut-Hirn-Schranke überwinden, dienen im Zentralnervensystem als Energiesubstrate für Neuronen und beeinflussen die Synthese der Neurotransmitter Dopamin, Serotonin und Neuropeptid YY.3 Die Achse wird daher mittlerweile auch als Teil der Reiz- und Stressverarbeitung gesehen. Studien haben gezeigt, dass sich akuter Stress negativ auf die Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms auswirkt.4 Umgekehrt scheint eine Dysbiose mit einem erhöhten Risiko für Depressionen und Angststörungen in Verbindung zu stehen.5 Diskutiert werden auch Zusammenhänge zwischen Dysbiose und Alzheimer sowie zwischen Dysbiose und Parkinson.6, 7 Neue Forschungsarbeiten zeigen die frühe Prägung der Interaktion zwischen Darm-Mikrobiom und Gehirn: Die Programmierung findet demnach in den ersten drei Lebensjahren und auch bereits pränatal statt. Modifikationen sind nach diesem Zeitraum jedoch durch den Lebensstil möglich.8

Mikrobiom und Körpergewicht

Das Darm-Mikrobiom hat eine Schlüsselrolle bei der Verwertung von Energie aus der Nahrung. Die Datenlage zeigt eindrucksvoll Zusammenhänge zwischen dem Mikrobiom und Übergewicht. Als wesentlicher Einflussfaktor gilt dabei der Shift von einer durch Bacteroidetes geprägten Flora zu einer Firmicutes-dominierten Flora. Stämme der Firmicutes-Gattung verwerten hochkalorische kurzkettige Fettsäuren, die durch Verdauung von Ballaststoffen entstehen, effizienter als Bacteroidetes. Studien am Tier und am Menschen haben ergeben, dass es Zusammenhänge zwischen Bacteroidetes-reichem Stuhl und Gewichtsverlust sowie zwischen Firmicutes-reichem Stuhl und Übergewicht gibt. Versuche mit Stuhltransplantationen auf Leptin-defiziente Mäuse, die hohe Konzentrationen von Firmicutes beherbergten, zeigten positive Wirkung in der Bekämpfung des Übergewichts.9

Zusammenhänge zwischen Darm-Mikrobiom und Vaginalflora

In der Vagina der gesunden, geschlechtsreifen Frau kommen Bakterien der physiologischen Haut-, Mund- und Darmflora vor. Sie bilden eine aerobe und anaerobe Standortflora im vaginalen Mikrobiom, das zu 70 % von Laktobazillen dominiert ist. Dieser saure Lebensraum verhindert die Vermehrung von potenziell pathogenen Erregern. Der Darm gilt daher als wichtiges Bakterienreservoir für den Schutz der Scheide. Durch den Verlust von H2O2-produzierenden Lactobazillen in der Vagina oder durch Überwucherung mit Gardnerella vaginalis, Bacteroides spp., Prevotella spp. und anderen Anaerobiern tritt als mikrobiologische Störung die bakterielle Vaginose auf. Nebst anderen Maßnahmen können oral verabreichte Probiotika die vaginale Mikrobiota regenerieren.10, 11

 

Assoz. Prof. Priv.-Doz. Dr. med. univ.
Vanessa Stadlbauer-Köllner
Medizinische Universität Graz
Expertenstatement über neue wissenschaftliche Erkenntnisse und den Forschungsstandort Österreich

Leber und Mikrobiom: enge Zusammenhänge erforscht

Lebererkrankungen sind mit einer Dysbiose des Darmmikrobioms vergesellschaftet. Wir konnten zeigen, dass Medikamente (insbesondere Protonenpumpenhemmer), die Ursache der Lebererkrankung, der Schweregrad der Lebererkrankung sowie Inflammation und Ernährungszustand die wichtigsten Einflussfaktoren sind. Protonenpumpenhemmer führen zu einer Oralisierung des Darmmikrobioms. Darunter verstehen wir, dass Keime aus der Mundhöhle im Darmmikrobiom zu finden sind. Diese Oralisierung ist mit einer erhöhten Darmpermeabilität, Inflammation und Komplikationen der Lebererkrankung assoziiert. International wird daran gearbeitet, aus Mikrobiomveränderungen Vorhersagen über den Verlauf von chronischen Lebererkrankungen zu treffen.

Österreich sehr guter Standort für Mikrobiomforschung
Österreich und insbesondere die Medizinische Universität Graz ist ein ausgezeichneter Standort für Mikrobiomforschung. Wir sind technisch bestens ausgestattet und es ist großes Know-how in der Datenanalyse vorhanden. Das zeigt sich unter anderem dadurch, dass im Jahr 2019 mehr als 200 wissenschaftliche Publikationen mit österreichischer Beteiligung in Pubmed unter dem Stichwort Mikrobiom zu finden sind. Der Standort Österreich ist damit auch für Firmen in diesem Bereich zunehmend von Interesse.

 

 

 

 

 

 

Univ.-Prof. Dr. Peter Holzer, FBPhS
Otto Loewi Forschungszentrum, Medizinische Universität Graz
Expertenstatement über neue wissenschaftliche Erkenntnisse und den Forschungsstandort Österreich

Spannende Forschung entlang der Darm-Hirn-Achse

In meinem experimentellen Forschungsgebiet (Mikrobiom-Darm-Hirn-Achse) sehen wir, dass ernährungsbedingte Änderungen in der Zusammensetzung des Darmmikrobioms messbare Auswirkungen auf die Gesundheit des Gehirns haben. Eine Hochfetternährung von Mäusen führt nicht nur zu Übergewicht, sondern manifestiert sich auch in einem depressionsartigen Verhalten. Das ernährungsbedingte Übergewicht und depressionsartige Verhalten tritt bei eingeschränktem Darmmikrobiom kaum auf, hängt also von Faktoren des Darmmikrobioms ab. Wir haben Hinweise dafür, dass eine ernährungsbedingte Falschzusammensetzung des Darmmikrobioms die Aktivität des Fettgewebes beeinflusst und über Hormone des Fettgewebes (Adipokine) das depressionsartige Verhalten auslöst.

Viel internationale Beachtung für MedUni Graz
Wenn man in PubMed die Zahl der Originalarbeiten (keine Übersichtsartikel) über Mikrobiom abfrägt (insgesamt, ohne zeitliche Einschränkung), ist der Output Österreichs zwar größer als der der einzelnen ehemals kommunistischen EU Staaten. Im Vergleich zu den westlichen Ländern übertreffen wir jedoch nur Portugal und sind gleichauf mit Norwegen. Deutschland publiziert um 373 % mehr Mikrobiomarbeiten. Quantitativ ist noch sehr viel Luft nach oben, wenn uns kleinere Länder wie Dänemark (+ 86 %), Schweiz (+ 66 %), Irland (+ 57 %) und Finnland (+ 28 %) um die genannten Prozente übertreffen. Diese Zahlen sagen natürlich nichts über die Qualität und den Innovationsgrad der Publikationen aus. Einzelne Arbeitsbereiche wie die Mikrobiom-Transfer-Studien der Klinischen Abteilung für Gastroenterologie und Hepatologie der Med Uni Graz finden international sehr viel Beachtung.

 

 

Literatur:

1 Universität Wien: Mikrobiom und Umwelt: Wie sich unser „Super-Organ“ verändert, 2018

2 Groeneveld M, Ernährung und Mikrobiota. Deutsche Gesellschaft für Ernährung: DGE-Info 1/2020

3 Lamprecht M, Holasek S, Konrad M et al., Lehrbuch der Sporternährung. Hrsg. Österreichische Gesellschaft für Sporternährung (ÖGSE), CLAX Fachverlag 2017

4 Farzi A, Fröhlich E, Holzer P, Gut Microbiota and the Neuroendocrine System. Neurotherapeutics (2018); 15:5–22

5 Macedo D, Filho AJMC, Soares de Sousa CN et al., Antidepressants, antimicrobials or both? Gut microbiota dysbiosis in depression and possible implications of the antimicrobial effects of antidepressant drugs for antidepressant effectiveness. J Affect Disord 2017 Jan 15; 208:22–32

6 Kowalski K, Mulak A, Brain-Gut-Microbiota Axis in Alzheimer’s Disease. J Neurogastroenterol Motil. 2019;25(1):48–60. DOI:10.5056/jnm18087

7 Sun MF, Shen YQ, Dysbiosis of gut microbiota and microbial metabolites in Parkinson‘s Disease. Ageing Res Rev. 2018 Aug; 45:53–61

8 Osadchiy V, Martin CR Mayer EA, The Gut–Brain Axis and the Microbiome: Mechanisms and Clinical Implications. Clin Gastroenterol Hepatol. 2019 Jan; 17(2):322–332

9 Kunnackal JG, Wang L, Nanavati J et al., Dietary Alteration of the Gut Microbiome and Its Impact on Weight and Fat Mass: A Systematic Review and Meta-Analysis.” Genes vol. 9,3 167. 2018, DOI:10.3390/genes9030167

10 Steyer GE, Das vaginale Mikrobiom. Schützen und Regenerieren mit Probiotika. EHK 2017; 66(01):44–50

11 Neumann G, Mutters NT, Hygiene und Infektionsprävention in der Frauenarztpraxis. Springer Verlag 2018