„Jeder von uns hat etwas beizutragen!“

ARZT & PRAXIS: Beginnen wir gleich mit dem Sonderheft. Worin lag die Motivation für das Sonderheft Pädiatrie?

Univ.-Prof. Dr. Daniela Karall: Uns ist eine gute Zusammenarbeit mit praktischen Ärzten sehr wichtig. Bei manchen Allgemeinmedizinern machen Kinder 40 % der Patienten aus. Da es in manchen Regionen gar keine Kinderärzte gibt, ist pädiatrisches Wissen bei Allgemeinmedizinern besonders wichtig. Zwischen Pädiatrie und Allgemeinmedizin muss ein guter Austausch stattfinden, die Kommunikation aufrechterhalten bleiben, damit ein gutes Miteinander auch weiterhin gelingt.

Fachärzte für Kinder- und Jugendheilkunde haben zwei Schwerpunkte: Wir sind auf der einen Seite für alle Kinder und Jugendlichen von 0 bis 18 Jahren in allen Belangen von Gesundheit, von der Prävention bis zur Therapie, zuständig – analog zu den Allgemeinmedizinern. Die Pädiatrie ist eigentlich das letzte Fach geblieben, in dem alle Organsysteme behandelt werden und in dem sich der Zuständigkeitsbereich durch die Altersspanne definiert. Auf der anderen Seite haben sich im Bereich der Pädiatrie viele Spezialisierungen etabliert, weil historisch die seltenen und angeborenen Krankheiten großteils in den Bereich der Pädiatrie fallen. Wir nehmen also eine duale Funktion ein: als Allgemeinmediziner für die Altersgruppe 0–18 und als Spezialisten für seltene und angeborene chronische Erkrankungen. Das macht den Spannungsbogen aus, der auch in diesem Heft abgebildet werden soll.

Wie wurden die Fortbildungsinhalte ausgewählt? Gibt dieser Auszug einen Eindruck über die Vielfältigkeit der Pädiatrie?

Wir haben bei der Themenauswahl hauptsächlich daran gedacht, dass Bereiche abgedeckt werden, die auch Allgemeinmedizinern in ihrer Praxis begegnen. Bei Diabetes beispielsweise ist es sinnvoll, auf Besonderheiten im Kindesalter hinzuweisen, nachdem vermutlich jeder Allgemeinmediziner damit in Berührung kommt.

Sie haben mit 1.1.2018 die Präsidentschaft der ÖGKJ übernommen. Welche Schwerpunkte konnten Sie in den letzten zweieinhalb Jahren setzen?

Die ÖGKJ ist eine Dachorganisation für alle pädiatrischen Ärzte. Damit unterscheidet sie sich von Gesellschaften in den anderen deutschsprachigen Ländern, wo eine Trennung zwischen dem niedergelassenen und dem Spitalsbereich existiert. Ich denke, dass der Umstand, dass wirklich alle Kinderärzte vertreten sind, den besonderen Wert unserer Gesellschaft ausmacht. Von jenen, die sich in der Praxis um Impfung und Präventionsmedizin kümmern, bis hin zu denen, die spezialisiert in der Klinik arbeiten und z. B. Lebertransplantationen durchführen, sind alle vertreten. Der Schwerpunkt, den meine Kollegin Sabine Scholl-Bürgi als 1. Sekretärin und ich in den letzten zweieinhalb Jahren gesetzt haben, ist das Bemühen, die Kommunikation zwischen extra- und intramuralem Bereich zu verbessern, durchlässiger zu machen und so das gegenseitige Verständnis und auch das Selbstverständnis zu verbessern. Es geht darum, dass die niedergelassene Pädiatrie nicht ohne die stationäre existieren kann und umgekehrt. Außerdem sehe ich einen Teil unserer Verantwortung darin, dass wir für die Bevölkerungsgruppe von 0–18 Jahren eine flächendeckende, wohnortnahe Versorgung und Betreuung sicherstellen – das ist die politische Komponente.

Wo liegen die Schwerpunkte Ihrer (universitären) Arbeit?

Ich habe zwei Schwerpunkte, die für mich den beschriebenen Spannungsbogen auch sehr gut widerspiegeln. Mein hauptsächlicher Schwerpunkt ist die Betreuung von Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen, die alle zu den seltenen Erkrankungen gehören. Jede einzelne betrifft also weniger als 1 von 2.000 Personen. Dort braucht es spezialisiertes Wissen. Die Hälfte dieser Patienten hat eine Ernährungstherapie, sprich, eine Diät. Ich beschäftige mich daher auch mit der Bedeutung der frühkindlichen Ernährung zur Prävention von späteren Erkrankungen, dazu gehört auch der Bereich Stillförderung. Deshalb ist mein zweiter Schwerpunkt die diesbezügliche Beratung und die Betreuung insgesamt – also auch für die Gesunden.

Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen in der Kinder- und Jugendheilkunde? Wo sehen Sie positive, wo negative Entwicklungen?

Die aktuell größte Herausforderung stellt die Abdeckung dieses großen Aufgabenfeldes dar. Das muss auch politisch bei der Verteilung von Mitteln und Ressourcen abgebildet werden. Ein Problem, das unser Gesundheitssystem generell betrifft, ist, dass zu wenig in Prävention und Beratungstätigkeit investiert wird, obwohl sich langfristig eine Investition in präventive Maßnahmen rechnen würde (z. B. Adipositas und ihre Folgekrankheiten). Wenn man aber den Alltag des Kinderarztes betrachtet, bemerkt man, dass gerade diese Tätigkeiten einen großen Teil der Arbeit ausmachen. Diese wichtigen Leistungen werden wiederum sehr schlecht remuneriert. So hat beim Mutter-Kind-Pass die letzte Valorisierung 1994 stattgefunden – keine andere Berufsgruppe würde zu Tarifen arbeiten, die über 25 Jahre lang unverändert geblieben sind! Hier bemühen wir uns standespolitisch um die Anerkennung dessen, was die Pädiatrie leistet – bei anderen Disziplinen, aber auch der Ärztekammer und im politischen Bereich. In diesem Bereich greift man seltener auf apparative Medizin zurück, und das schlägt sich finanziell nieder.

Eine Herausforderung, die viele Fachdisziplinen betrifft, ist, dass es zwar erfreulicherweise eine Reihe von Therapien für seltene Erkrankungen gibt, die aber im Allgemeinen sehr teuer sind. Daher stellt sich die Frage, wer für diese neuen Behandlungsoptionen aufkommt. Finden sie im stationären Bereich statt, bezahlt das Krankenhaus, im ambulanten Bereich die Krankenkasse. Es gibt aber leider Situationen, wo einzelne Geldgeber versuchen, diese Patienten zu verschieben, damit nicht der eigene Topf belastet wird. Unserer Meinung nach wäre es sinnvoll, wenn die Experten, die die Therapien verschreiben, befragt würden und über die Indikation und dann auch die sinnvolle Durchführung therapeutischer Maßnahmen entscheiden.

Es passiert zu oft, dass dieser Konflikt hinsichtlich der Kostenfrage auf dem Rücken einzelner Patienten ausgetragen wird. Dem Patienten wird dabei suggeriert, er sei so teuer, dass er das System zum Zusammenbrechen bringt. Was sollen denn die Eltern eines Kindes machen, das keine andere Therapiemöglichkeit hat? In diesem Sinne sehen wir uns auch als Stimme für die Betroffenen und wollen, dass die Finanzierung bundeseinheitlich geregelt wird und dabei Experten eingebunden werden. Das wäre ein Schritt hin zur Vereinheitlichung und damit Vereinfachung.

Man gewinnt den Eindruck, dass die Spezialisierung in der Medizin insgesamt immer wichtiger wird. Betrifft diese Entwicklung auch die Pädiatrie?

Inhaltlich betrifft uns diese Entwicklung natürlich und die Ärzteausbildung 2015 hat auch das Sonderfach Pädiatrie verändert, wobei sich die Pädiater erfolgreich dagegen gewehrt haben, dass eine Spezialisierung zu früh in der Ausbildung erfolgt. Ein Modell mit einer reinen Spezialisierung in der Facharztausbildung wie bei den Internisten haben wir abgelehnt. Denn die Zuständigkeit wird in der Pädiatrie nicht durch ein Organ, sondern durch die Altersspanne definiert. Bei uns findet die Schwerpunktsetzung zwar statt, aber modular. Man ist ausgebildeter Facharzt für Kinder-und Jugendheilkunde und hat dabei einen Schwerpunkt, wie z. B. Gastroenterologie, Hepatologie oder Stoffwechselerkrankungen. Zusätzlich gibt es die derzeit 9(–10) Spezialisierungen, die nach der Facharztausbildung absolviert werden können, analog zu den früheren Additivfächern. Und das soll nach Möglichkeit so bleiben.

Wie sieht die Ausbildungssituation in der Kinder- und Jugendheilkunde aus? Haben Sie ausreichend „Nachwuchs“?

Im Moment ist die Bewerbungssituation für Ausbildungsstellen sehr gut. Die Besetzung der Ordinationen insbesondere im ländlichen Bereich ist da schon eine größere Herausforderung. Das war mit ein Grund dafür, 2018 in der ÖGKJ das Referat „Junge ÖGKJ“ zu gründen. Wir möchten den Austausch mit jungen Kollegen fördern, um zu erfahren, welche Bedürfnisse sie haben und wie wir diese besser abbilden können. Diese Bedürfnisse sollen von den Betroffenen selbst formuliert werden können. In Zusammenarbeit mit dem Referat wurden bereits mehrere Umfragen durchgeführt, z. B. über die Arbeitszufriedenheit. Ein Resultat war, dass die Jungen gerne in den niedergelassenen Bereich gehen wollen, aber nicht mehr nach dem alten Modell „Einzelkämpfer“, der 7 Tage die Woche 365 Tage im Jahr für sein Einzugsgebiet zuständig ist. Das ist auch sinnvoll. Modelle, die gefragt sind, beinhalten mehr zeitliche Flexibilität und Teamarbeit. Wir hätten uns ein ähnliches Modell wie das der Primärversorgungseinheiten gewünscht. Bisher ist das nicht umgesetzt. Bislang muss immer zumindest ein Allgemeinmediziner dabei sein; wir hätten allerdings gerne die Möglichkeit, eine Versorgung unserer Patienten auch in rein pädiatrischen Zentren anzubieten.

Ist die Pädiatrie in der Ausbildung zum Allgemeinmediziner oder auch in anderen Fachgebieten ausreichend abgebildet?

Wir finden, dass das nicht der Fall ist. In der ursprünglichen Turnusärzteausbildung betrug die Rotationszeit in der Pädiatrie 9 Monate. Inzwischen wurde sie auf 3 Monate reduziert. Unserer Meinung nach kann man dieses Fachgebiet unmöglich in dieser kurzen Zeit abbilden – das ist eindeutig zu wenig. Uns melden auch die niedergelassenen Allgemeinmediziner zurück, dass sie sich in pädiatrischen Fragestellungen oft unsicher fühlen. Deswegen freuen wir uns, wenn Allgemeinmediziner unsere Tagungen wie die Jahrestagung vom 24.–29. September in Innsbruck und andere Fortbildungen besuchen. Dabei werden bewusst auch allgemeinpädiatrische Themen abgedeckt.

Können Sie uns einen Ausblick geben, was uns in den nächsten Jahren im Bereich der Pädiatrie erwartet?

Was sich bereits jetzt ändert – und diese Entwicklung werden wir weiterhin beobachten –, ist, dass die Eltern mündiger, selbstbewusster, aktiver werden. Das ist etwas, das man grundsätzlich positiv sehen muss, weil dadurch neue Ressourcen entstehen. Auf der anderen Seite fordert das natürlich auch mehr: Das sieht man gut beim Thema Impfen: Vor 20 Jahren etwa wurde viel eher das getan, was der Arzt empfohlen hat, und nicht weiter hinterfragt. Heute muss man deutlich mehr erklären, die Eltern stärker einbeziehen. Die gute Information durch den Pädiater zahlt sich aber aus, denn die Eltern tragen diese Information auch weiter in ihr Umfeld. Dadurch können beispielsweise die Impfakzeptanz und das Verständnis um die Sinnhaftigkeit von Impfungen steigen.

Das andere ist der Bereich der chronischen und seltenen Erkrankungen, bei denen sich in den letzten Jahren viel getan hat. Das Verständnis dieser Erkrankungen wächst stetig, u. a. durch genetische Analysen. Wir werden daher mehr Menschen mit diagnostizierten seltenen Erkrankungen sehen, denen man mit der Zeit auch therapeutisch mehr anbieten kann. Die sich stellende Frage ist, wie die Kosten getragen werden können. Auch hier spielt das Thema „mündigere, besser informierte Eltern“ eine Rolle, denn diese fordern logischerweise die bestmögliche Versorgung für ihre Kinder ein, auch wenn eine Therapie z. B. in Österreich noch nicht verfügbar ist, und stoßen Diskussionsprozesse an.

Haben Sie ein Anliegen, das wir noch nicht angesprochen haben?

Mir ist wichtig, zu betonen, dass die meisten von uns diesen Beruf gewählt haben, weil sie gerne mit Menschen zusammenarbeiten und für sie etwas weiterbringen möchten. Für mich geht das am besten im Gespräch auf Augenhöhe – egal, ob mit Eltern oder intra- und interdisziplinär mit Kollegen. Jeder von uns hat etwas beizutragen.

Vielen Dank für das Gespräch!