Checklisten in der Medizin: Hilfsmittel oder Zeitdieb?

Viele Ärzte oder Pflegepersonen wünschen sich, in jeder auch noch so kritischen Situation immer die richtige Entscheidung treffen zu können. Als Anästhesist und Notarzt der Christophorus Luftrettung ist man immer wieder mit Situationen konfrontiert, in denen man als letzte Instanz Entscheidungen zu treffen hat. Als ein mittels „gelbem Hubschrauber“ eintreffender Notarzt übernimmt man in der Regel automatisch die Position des Teamleaders. Es wird erwartet, die Situation schnell und kompetent unter Kontrolle zu bringen. Ein polytraumatisiertes Kind soll im Straßengraben genauso professionell versorgt werden wie eine Patientin oder ein Patient mit großem Vorderwandherzinfarkt und konsekutiver kardialer Dysfunktion. Der Auftrag, allen Menschen die gleiche diagnostische und therapeutische Qualität zukommen zu lassen, ist umso schwieriger, je komplexer die Situation und je widriger die Umstände sind. Menschen auf diese Weise zu helfen ist cool – doch Coolness birgt Gefahren in sich: Fehler schleichen sich ein und Hilfsmittel, sich gegenüber unerwünschten Ereignissen abzusichern, sind erforderlich.

Akzeptanz gering

Aus der kommerziellen und der militärischen Luftfahrt ist der Einsatz von Checklisten nicht mehr wegzudenken. Auch in der Medizin macht man sich das Wissen zunehmend zunutze. „Im klinischen Alltag jedoch erscheint die Etablierung von Checklisten, ihr Gebrauch und die Akzeptanz des Personals von diversen Schwierigkeiten begleitet zu sein“, weiß der Experte. Und das, obwohl die Anforderungen zunehmend komplexer werden und in diesem Umfeld von ständig steigendem Arbeitsaufkommen, hohem Leistungsdruck und Patientenerwartungen, aber auch von Planungsdefiziten unerwünschte Ereignisse zunehmen. Teilprozesse laufen längst nicht nur interdisziplinär, sondern auch interprofessionell, parallel und seriell ab. Das erhöht naturgemäß die Gefahr für grundsätzlich vermeidbare Fehlhandlungen, aus denen leicht Schäden für den Patienten erwachsen können.

Routine oder Notfall

Checklisten kommen in „high reliability“ Organisationen wie der Luftfahrt, Chemie- oder auch Bauindustrie zum Einsatz, um „human errors“ möglichst zu vermeiden. Grundsätzlich werden zwei Arten von Checklisten unterschieden: So stellen „normale Checklisten“ Gedächtnisstützen für Routineverfahren dar. Um auch in Notfallsituationen gewappnet zu sein, werden sogenannte „non-normal checklists“ entwickelt. Allen gemeinsam sind ihre einfache Struktur und Präzision. Gute Checklisten müssen kurz und übersichtlich sein, um sie effektiv einsetzen zu können. Es ist nicht notwendig, eine Checkliste bis ins Detail auszuformulieren, sie soll nur an die wichtigsten und kritischsten Schritte erinnern.
Auch im Design unterscheiden sich Checklisten voneinander. Zum einen gibt es „do-confirm checklists“, die als reine Überprüfung bereits ausgeführter Schritte fungieren. Pilot und Kopilot arbeiten demnach intuitiv aus ihrem Gedächtnis und ihrer Erfahrung, stoppen dann aber aktiv, um die Checkliste einzusetzen. Mit ihrer Unterstützung wird dann überprüft, ob alle nötigen Punkte auch wirklich abgehandelt wurden. Anders funktionieren sogenannte „read-do checklists“, die durchwegs an ein Rezept erinnern. Dabei liest ein Teammitglied die Punkte der Liste laut vor, ein anderes führt sie parallel dazu aus.

Checklisten-Design

Allen gemeinsam ist eine Länge von nur fünf bis neun Punkten. Es ist essenziell, dass Checklisten nicht zu lang gehalten sind, da sie dann per se zur Ablenkung von anderen wichtigen Punkten werden können. In diesem Fall besteht die große Gefahr, dass Schritte übersprungen werden, um die Liste schneller abzuarbeiten und essenzielle Dinge nicht ausgeführt werden. Weiters sollte sie auf nur eine einzige Seite passen und optisch ansprechend entworfen sein, ohne viele Farben zu beinhalten. Vor ihrem Einsatz in der Realität müssen Checklisten wiederholt getestet werden und unterliegen einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess.
Vor allem wenn gleiche Checklisten sehr häufig und über einen langen Zeitraum verwendet werden, lässt sich fallweise ein Muster von Unkonzentriertheit und Oberflächlichkeit erkennen. Teammitglieder bekommen den Eindruck, die gleiche Sache jeden Tag in exakt gleicher Weise auszuführen und beginnen, die Checkliste in ihren Händen zu umgehen. Dies passiert umso leichter, wenn die Benutzung durch eine Ablenkung unterbrochen wird. In diesem Fall ist ein enormer Aufwand an Konzentration notwendig, um zurück in ein sicherheitsbewusstes Arbeiten zu kommen.
Checklisten fördern die Kommunikation und ermöglichen ein Kennenlernen von Teammitgliedern. So kommt es fast automatisch zu einem Briefing auf bevorstehende Aufgaben, in dem auch potenzielle Gefahrenquellen angesprochen und Exitstrategien thematisiert werden können.

Pioniere in der Medizin

Anästhesist und Intensivmediziner Prof. Peter Pronovost war einer der ersten Ärzte, der in den USA Checklisten in der Medizin einsetzte, um der steigenden Komplexität entgegenzuwirken und Prozesse zu vereinfachen. Im Jahr 2001 startete er mit dem Vorhaben, Blutinfektionen aufgrund bakteriell besiedelter zentraler Venenkatheter durch die Anwendung einer einfachen Checkliste zu bekämpfen – Infektionen, die immerhin für rund 30.000 Tote (USA) pro Jahr kausal verantwortlich waren. Er listete fünf Punkte auf, die notwendig erschienen, um Katheterinfektionen zu verhindern: Hände mit Seife waschen; die Haut des Patienten mit einem Desinfektionsmittel reinigen; mit sterilen Tüchern abdecken; Maske, Kopfbedeckung, sterilen Mantel und sterile Handschuhe tragen und einen sterilen Verband auf die Einstichstelle aufbringen. All diese Punkte waren den Ärzten und Pflegepersonen bekannt, doch in vielen Fällen wurden sie einfach nicht beachtet. Das Pflegepersonal wurde ermächtigt, Ärzte in ihrer Arbeit zu stoppen, wenn sie Punkte der Liste umgingen. Diese Regelung löste anfangs großen Widerstand aus, wurden dann aber vonseiten der Krankenhausleitung angeordnet. Das Ergebnis: Die Infektionsrate sank von 11 % auf 0 %.
Um den Effekt auch in einer größeren Population nachweisen zu können, wurde die Untersuchung auf Intensivstationen in Michigan ausgeweitet: Innerhalb von 18 Monaten konnten die Infektionen um 66 % reduziert werden. Schätzungen zufolge konnten so rund 1.500 Leben gerettet und 175 Millionen US-Dollar eingespart werden. Aufgrund des großen Erfolges der Checkliste wurde sie später auf große Teile der USA und Europa ausgerollt.
Auch im chirurgischen Umfeld hat sich die „WHO surgical safety checklist“ bewährt, die heute insgesamt 19 Checks umfasst, von denen sieben vor der Narkoseeinleitung durchgeführt werden. Die Verwendung dieser Checkliste ist heute eine klare Empfehlung der WHO, der sich weltweit auch viele Organisationen und Fachgesellschaften angeschlossen haben („World Alliance for Patient Safety“).