Digitale Medizinprodukte auf Rezept

Im Jahr 2019 wurde mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) eine rechtliche Grundlage geschaffen, damit bestimmte digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA), wie Apps und webbasierte Programme, auch von Ärzten verschrieben werden können. Dazu ist vorab eine Prüfung durch das deutsche Bundes­institut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erforderlich, um aus den rund 150.000 Gesundheits-Apps, die auf dem Markt sind, jene herauszufinden, die auch sicher in der Anwendung sind und dem Patienten einen Nutzen bringen. Aspekte wie Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Leistungsfähigkeit, aber auch Datensicherheit, Datenschutz und Barrierefreiheit sind nur einige Themen, die sich das BfArM ansieht, bevor eine Anwendung in das zentrale DiGA-Verzeichnis aufgenommen wird und die Kosten bei der Verschreibung übernommen werden. Einblick in diesen Prozess sowie die Hürden und Chancen gibt Natalie Gladkov vom Referat Digitale Medizinprodukte des Bundesverbands Medizintechnologie e.V.

Wie kam es zur Verabschiedung des DVG?

In den letzten Jahren gab es immer mehr Selektivverträge zwischen Herstellern und Kassen über digitale Anwendungen, die als Alleinstellungsmerkmal verkauft wurden. Der Gesetzgeber hat erkannt, dass darin aber mehr Potenzial für die Patientenversorgung liegt. Um den Prozess der Zulassung abzukürzen und damit auch die Lebens- und Entwicklungszyklen dieser Anwendungen zu beachten, wurde ein sogenanntes Fast-Track-Verfahren einführt. Darin prüft das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte die in der Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) definierten Anforderungen.

Wie sehen diese Anforderungen konkret aus?

Auf jeden Fall muss es sich um ein Medizinprodukt handeln. Diese Anforderung wird mit der neuen Medizinprodukteverordnung der EU noch einmal eine große Hürde werden. Darüber hinaus gibt es Kriterien wie Sicherheit und Funktionstauglichkeit, Datenschutz und Informationssicherheit sowie Qualität und insbesondere Interoperabilität und den Nachweis des Herstellers für die positiven Versorgungseffekte. Falls noch keine ausreichenden Nachweise für positive Versorgungseffekte vorliegen, es dazu aber bereits vielversprechende Daten gibt und die weiteren Anforderungen erfüllt sind, kann eine vorläufige Aufnahme in das Verzeichnis beantragt werden. Die notwendige vergleichende Studie muss dann innerhalb einer Erprobungsphase von bis zu einem Jahr durchgeführt werden. Daraus ergeben sich wertvolle Impulse für neue Medizinprodukte, die letztlich den Patienten zugutekommen sollen.

Wie sind Ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Zulassungsprozess?

Das Verfahren ist für die Hersteller aufwendig. Wir haben aktuell 150 Anträge, davon wurden bisher 31 angenommen, 60 wieder zurückgezogen, sieben wurden abgelehnt.

Wie erfolgt die Preisgestaltung?

Der Hersteller darf im ersten Jahr, unabhängig ob er vorläufig aufgenommen wurde oder schon eine komplette Studie vorliegen hat, den Preis selbst festlegen. Hier wurden keine Vorgaben gemacht, weil jede DiGA einzigartig ist und sich der Markt auch erst entwickeln muss. Der Kassenverband hat jedoch eine Obergrenze eingefordert, da die DiGAs seiner Meinung nach sehr hochpreisig eingestiegen sind. Jetzt gibt es ein Höchstbetragsmodell. DiGAs werden nach ICD10-Codes in Gruppen und nach medizinischem Nutzen oder patientenrelevanten Struktur- und Verfahrensverbesserungen eingeordnet. Somit ergeben sich 34 Höchstbetragsgruppen. Eine Kommission berät über die Zuteilung, für KI-Anwendungen wird es Ausnahmen geben. Nach der Zuordnung berechnet ein Fachgremium die Höchstbeträge, je nachdem, wie viele Anbieter es in einer Gruppe gibt. Hat ein Hersteller 2.000 Verordnungen erreicht, so muss er sich melden und sich an den bekannten Höchstbetrag halten. Im zweiten Jahr muss der Hersteller mit dem Kassenverband verhandeln. Hier wird unter anderem ins Kalkül gezogen, ob die Anwendung genutzt wurde.
Aus den bisherigen Erfahrungen sehen wir, dass die Preise gegenüber den ursprünglichen Vorstellungen sinken werden und der Kassenverband dazu tendiert, die Entscheidungen der Schiedsstelle zu überlassen. Dort muss dann auch begründet werden, warum man sich für einen bestimmten Preis entschieden hat.

Welche Unternehmen sind es, die DiGAs anmelden?

Meist sind es junge Start-ups und die wenigsten haben Vorerfahrungen mit Medizinprodukten oder sind Mitglieder im BVMed (Bundesverband Medizintechnologie).Med-Tech-Unternehmen haben aktuell großes Interesse an Kooperationen. Pharmafirmen waren hier schon viel früher dran mit ihren Inkubatoren und sind diesbezüglich bereits professioneller aufgestellt.
Aktuell wächst aber die Zahl an neuen Anträgen nicht. Wir haben doch noch einige Themen, die dazu führen, dass der Markt verhalten reagiert. So müssen etwa die Daten hier in Deutschland gespeichert werden. Das macht dann eine Kooperation mit internationalen Med-Tech-Firmen schwierig.
Auch die Studien müssen mit Patienten in Deutschland gemacht werden, um die Lösungen auf unseren Versorgungskontext abzustimmen. 70 % der Einreicher haben aktuell einen vorläufigen Antrag gestellt. Dennoch erfolgt eine Erstattung, wenn nur ein potenzieller Nutzen vorliegen könnte. Mit den Einnahmen aus einem eher hohen Preis im ersten Jahr wird dann meist die Studie dazu finanziert.

Erwarten Sie einen Einbruch bei den ­Interessenten, wenn die Medizinprodukte-Verordnung (MDR) schlagend wird?

Eine Diskussion mit den Benannten Stellen könnte sich durch die Zuordnung zu den Risiko­klassen ergeben. Derzeit sind viele DiGAs im Bereich von verhaltenstherapeutischen und unter anderem psychischen Maßnahmen Risiko­klasse 1 nach MDD (Medizinprodukte-Richtlinie). Mit der MDR wird Software unter Risiko­klasse 2a oder, wenn sie entscheidungs-unterstützend sind, unter 2b eingeordnet. Wir hätten erwartet, dass mehr Einreichungen zum Thema der klassischen Volkskrankheiten wie Diabetes kommen, aber aktuell haben wir einen Schwerpunkt bei Schmerz oder Depression. Hier decken sie zum Teil auch Versorgungslücken ab und können sich gut positionieren, denn es gibt lange Wartezeiten auf Psychotherapieplätze.

Wie sieht das Marktpotenzial aktuell aus?

Viele DiGAs haben ein Vertriebsproblem und für sie muss vom Hersteller die Awareness bei den Kassenärzten geschaffen werden. Bei den Leistungserbringern ist das Wissen über die Anwendungen und möglichen Einsatzgebiete noch gering, daher wird auch nicht aktiv gepusht, die Verschreibungen zu erhöhen.
Ärzte und Therapeuten sind noch verhalten, wenn es um die Nutzung der Anwendungen geht. Der Wunsch kommt meist vonseiten der Patienten, die damit an ihren Arzt herantreten. Wir wissen, dass seit dem ersten Listing einer DiGA im Verzeichnis im Oktober 2020 rund 17.000 Verordnungen stattgefunden haben. Grob gerechnet würde das etwas weniger als 1.000 Verordnungen pro DiGA bedeuten. Anspruch hätten potenziell mehr als 70 Mio. Versicherte in Deutschland. Da ist noch Luft nach oben.

DiGAs haben das Potenzial, das Gesundheitssystem rasch und kosteneffektiv weiterzuentwickeln. Klar definierte, transparente Verfahren unter Berücksichtigung der Rechtsicherheit für Marktzugang und Finanzierung müssen jetzt geschaffen werden. Das Positionspapier der AUSTROMED fasst die wichtigsten Eckpunkte und Forderungen dazu zusammen.
In Deutschland wurden in einem Jahr rund 50.000 DiGA ärztlich verordnet oder von den Kranken­kassen genehmigt, doch die Bilanz fällt ernüchternd aus. Lediglich knapp 80 % sind aktiviert. Nur ein Viertel der Anwendungen wurde dauerhaft ins Verzeichnis des Bundesinstituts für Arznei­mittel und Medizinprodukte (BfArM) aufgenommen und konnte einen Nutzen belegen. Österreich kann daraus lernen: Es braucht bei der Umsetzung von Innovationen mehr als einen starren Rahmen. Wir benötigen Übergangsszenarien und kreative Lösungen, die den Markt für Neues öffnen.