Von der Theorie zur Praxis

Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) finden sich schon jetzt in Diagnose und Therapie, und Gesundheits-Apps wird ein großes Marktpotenzial vorausgesagt. Wo stehen wir aktuell?
In Österreich entwickelt sich gerade ein Digi-Health-Markt, da der Trend in Richtung digitaler Gesundheitsversorgung seit der Corona-Pandemie enorm angestiegen ist. Der Markt für DiGA-Anbieter ist bei uns leider sehr eingeschränkt, sodass viele App-Entwickler nach Deutschland ausweichen. Dort gibt es bereits seit einigen Jahren DiGA auf Rezept.
Neue Ansätze benötigen den rechtlichen Rahmen und dann natürlich auch die Inklusion der vielfältigen wissenschaftlichen Fortschritte. Wünschenswert wäre es, beispielsweise Apps auf Rezept auch per Gesetz zu ermöglichen. Auf diese Weise könnte sich auch hierzulande ein entsprechender Markt etablieren. Das würde dem Gesundheits-, Innovations- und Wirtschaftsstandort Wien sehr zugutekommen.

„Digital vor ambulant vor stationär“ lautet aktuell das Credo im Gesundheitswesen. Wird die Rechnung ohne die Patienten gemacht?
Nein, denn der Patient steht nach wie vor im Mittelpunkt. DiGA können Patienten aber zielgerichtet und rund um die Uhr bei der Gesundung unterstützen und mithelfen, unser Gesundheitssystem nachhaltig zu entlasten. Sie können jeden Einzelnen nachweislich zu mehr Gesundheitsbewusstsein motivieren, zu einem gesünderen Lebensstil anleiten und zu sportlichen Aktivitäten bewegen.
Die Aufwertung des niedergelassenen Bereichs und die Stärkung des Hausarztes kommen ebenfalls dem Patienten zugute. Telemedizin ermöglicht die gezielte Vermittlung von digitalen Gesundheitsangeboten und vermag, unsere Spitalsambulanzen zu entlasten – gemäß dem Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“. Ein besonderes Anliegen ist mir die Aufwertung der Gesundheitshotline 1450 in Richtung digitalisierter Medizin für alle und zu jeder Zeit. Die digitale Terminvergabe ermöglicht eine zielgerichtete und rasche Zuordnung von Patienten zum „Best Point of Care“.

„Digital“ allein wird aber nicht genug sein. Was braucht es noch?
Der Ausbau der Wiener Primärversorgung ist zentral. Aktuell gibt es 50 Primärversorgungseinheiten (PVE) in Österreich, 15 davon allein in Wien. Im Regionalen Strukturplan Gesundheit (RSG) sind 36 PVE-Standortgebiete bis 2025 aufgrund des erhöhten Versorgungsbedarfs für die Bundeshauptstadt eingeplant. Das Anbot an PVEs hilft, Patientenströme zu lenken und Spitalsambulanzen zu entlasten.
Prävention mithilfe des Konzepts „Best-Agers-Bonus-Pass“ kann ebenfalls enorm viel im Gesundheitssystem bewirken, damit wir nicht nur länger leben, sondern die Zeit bei bester Gesundheit verbringen. Das Konzept bietet auch große Chancen für eine bessere Pflege von älteren und kranken Personen in unserer Gesellschaft.
Wo sehen Sie konkret die großen Chancen von DiGA?
Die Zukunft der Gesundheitsversorgung liegt in einem modernen, krisenfesten, digitalen Gesundheitswesen. DiGA als Medizinprodukte niedriger Risikoklasse, die dazu bestimmt sind, die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen zu unterstützen, helfen mit, die Bevölkerung gesünder und fitter zu machen.
Eine medizinprodukterechtliche Einordnung ist laut geltender Rechtsmeinung bereits jetzt schon möglich, eine sozialversicherungsrechtliche Einordnung ebenso. Die Sachleistungsgewährung ist allerdings noch nicht geklärt. Dafür wären noch weitere rechtliche Schritte erforderlich.

Kann der Digital Austria Act dazu beitragen, dass DiGA rascher in den Markt kommen?
Die Digitalisierungsoffensive der österreichischen Bundesregierung gibt mit dem Digital Austria Act Anlass zur Hoffnung, dass in absehbarer Zeit ein gesetzliches Regelungssystem für DiGA geschaffen wird. Im Digital Austria Act findet sich unter Punkt 7.4 folgende Formulierung: „Die Verschreibung qualitätsgesicherter Digitaler Gesundheitsanwendungen soll in Zusammenarbeit mit der Sozialversicherung ermöglicht werden und die telemedizinische Versorgung in unserem Land ergänzen.“

Wo sehen Sie aktuell die größten Hürden?
Die österreichische Sozialversicherung ist ein Key Player für digitale Projekte: Die IT-Services der Sozialversicherung und die Sozialversicherungs-Chipkarten Betriebs- und Errichtungsgesellschaft m.b.H. steuern und koordinieren als innovative Technologieunternehmen die IT-Aktivitäten der österreichischen Sozialversicherung.
Die Pensionsversicherungsanstalt hat eine telemedizinische Maßnahme bereits umgesetzt: die RehaApp. Sie soll die Nachhaltigkeit der medizinischen Maßnahmen unterstützen.
Die Österreichische Gesundheitskasse arbeitet ebenfalls an innovativen Lösungen wie etwa dem in Planung befindlichen elektronischen Eltern-Kind-Pass.
Die Hürde ist, dass es österreichweit kein einheitliches Konzept gibt und jeder einzelne SV-Träger seine eigene digitale Strategie verwirklicht. Der Dachverband der österreichischen Sozialversicherungsträger wäre daher, meiner Meinung nach, aufgerufen, alle diese Services in einen Gesamtrahmen einzufügen. Insbesondere für Mehrfachversicherte ist das ein wesentliches (Transparenz-)Anliegen.

Wie können diese Hürden aus dem Weg geräumt werden?
Die Telemedizin wurde durch die Corona-Krise enorm beschleunigt. Die digitalen Anwendungen werden sich längerfristig aber nur dann bewähren, wenn sie von Ärzten und Patienten auch außerhalb einer Krise als unkompliziert und sicher wahrgenommen werden und der individuelle Nutzen auf beiden Seiten direkt erlebbar wird.
Die Fragen nach der Einbindung von DiGA in das öffentliche Gesundheitswesen bzw. nach der Klärung der Kostenübernahme durch die Sozialversicherung müssen ebenfalls noch erörtert werden.

Was sind dazu konkrete nächste Schritte?
Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf den Ausbau der Gesundheitshotline „1450 first“ verweisen, ein lang gehegter gesundheitspolitischer Wunsch mit einem großen Lenkungseffekt. Es geht schließlich darum, durch digitale Angebote, Patienten besser zu versorgen, um stetig wachsende Patientenströme zu lenken. Steuerungsmöglichkeiten gibt es genug, man muss sie nur umsetzen. Dazu gehören Online-Entscheidungshilfen im Krankheitsfall als niederschwellige Gesundheitsberatung, telemedizinische Gesundheitsberatung und digitale Terminvergabe, online-Terminvergabe oder Anreizsysteme durch den Wegfall der Rezeptgebühr. Damit die Maßnahmen greifen, ist es aber auch entscheidend, die Bevölkerung einzubinden und beispielsweise über Kampagnen von den Fortschritten und Verbesserungen zu überzeugen.