Blutzuckerkontrolle auf der Intensivstation

N Engl J Med 2012 Sep 20;367(12):1108-18
Hypoglycemia and risk of death in critically ill patients
NICE-SUGAR Study Investigators, Finfer S, Liu B, Chittock DR, Norton R, Myburgh JA, McArthur C, Mitchell I, Foster D, Dhingra V, Henderson WR, Ronco JJ, Bellomo R, Cook D, McDonald E, Dodek P, Hébert PC, Heyland DK, Robinson BG

N Engl J Med 2012 Sep 27;367(13):1208-19. Epub 2012 Sep 7
Tight glycemic control versus standard care after pediatric cardiac surgery
Agus MS, Steil GM, Wypij D, Costello JM, Laussen PC, Langer M, Alexander JL, Scoppettuolo LA, Pigula FA, Charpie JR, Ohye RG, Gaies MG; SPECS Study Investigators

 

In der NICE-SUGAR Study (NCT00220987) mit ca. 6.100 chirurgischen sowie nichtchirurgischen Patienten, die konsekutiv 3 oder mehr Tage intensivmedizinisch betreut werden mussten, war die intensivierte Blutzuckerkontrolle (Zielbereich: 81–108 mg/dl) mit einer um 14 % erhöhten 90-Tage-Mortalität im Vergleich zur Kontrollgruppe (Blutglukoseziel: < 180 mg/dl) assoziiert (p = 0,02). Für ihre jüngste Publikation korrelierten die NICE-SUGAR-Studienautoren das Mortalitätsrisiko von 6.026 Patienten mit dem Auftreten von Hypoglykämien. Im Vergleich zu Personen, die keine Hypoglykämie erlitten, war ein moderater Abfall der Blutglukose auf Werte von 41–70 mg/dl mit einem um 41 % erhöhten Mortalitätsrisiko, schwere Hypoglykämien (Blutzucker ≤ 40 mg/dl) mit einem um 210 % erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden (p < 0,001 in beiden Fällen). Das Auftreten von Hypoglykämien war eng mit der intensivierten Stoffwechselkontrolle korreliert: 82 % der Patienten mit moderaten sowie 93 % der Patienten mit schweren Hypoglykämien stammten aus der intensiviert behandelten Gruppe. Häufigere und schwere Hypoglykämien bei Patienten ohne Insulintherapie waren aber ebenfalls mit einer deutlich erhöhten Mortalität assoziiert.

Zu einem ernüchternden Ergebnis kamen auch Michael Agus et al. im gänzlich anderen Kollektiv des Safe Pediatric Euglycemia after Cardiac Surgery (SPECS) Trial: Die Studie inkludierte 980 Säuglinge im medianen Alter von 5 Monaten, bei denen aufgrund einer kongenitalen Herzerkrankung ein herzchirurgischer Eingriff mit kardiopulmonalem Bypass durchgeführt werden musste. Bei 490 Kindern wurde der Eingriff unter intensivierter Blutzuckerkontrolle durchgeführt (Zielbereich: 80–110 mg/dl), überwiegend (n = 444) mittels kontinuierlicher Insulininfusion und häufigen Blutzuckermessungen: In der Kontrollgruppe war kein festes Blutzuckerziel vorgegeben, bei 2 % der Patienten veranlasste der betreuende Kardiologe eine Insulintherapie. Entsprechend wurden in der intensiv kontrollierten Gruppe normoglykämische Werte früher erreicht (6 Stunden vs. 16 Stunden) und konnten bei einem größeren Teil der Patienten aufrechterhalten werden (50 % vs. 33 %; p < 0,001). Trotzdem hatte die Intervention im Vergleich zur Standardtherapie keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Infektionsraten, die Mortalität, die Krankenhausaufenthaltsdauer oder auf Parameter für das Organversagen. Die Hypoglykämierate war in der intensiviert kontrollierten Gruppe mit nur 3 % gering.

 

KOMMENTAR – Prim. Univ.-Doz. Dr. Raimund Weitgasser

Die NICE-SUGAR Study bestätigt den Trend zur weniger knappen Diabeteseinstellung bei multimorbiden Patienten, welchen die großen Diabetesstudien der letzten Jahre (ACCORD, ADVANCE, VADT) zur Folge hatten. Bei Patienten, die an einer Intensivstation behandelt werden müssen, liegt vergleichsweise ein Zustand der Multimorbidität vor, der das Risiko für schwere Hypoglykämien deutlich erhöht. Die sowohl kardial als auch zerebral erhöhte Instabilität und Vulnerabilität des Intensivpatienten, gekoppelt mit Elektrolytverschiebungen, Inflammation, Gerinnungsstörung, Vasokonstriktion und autonomer Dysfunktion, sind wohl Ursachen dafür. Umgekehrt kann das Auftreten einer spontanen schweren Hypoglykämie als Marker für einen Verlauf mit erhöhtem Mortalitätsrisiko betrachtet werden. Patienten mit längerem Aufenthalt in der Intensivstation, also offensichtlich schwererem Krankheitsbild, hatten deutlich mehr moderate und schwere Hypoglykämien als jene mit kürzerem Aufenthalt (52,4 % vs. 38,8 % bzw. 6 % vs. 1,8 %). Die Assoziation der erhöhten Mortalität mit moderater und schwerer Hypoglykämie um 41 % bzw. 210 % (p < 0,001) bestand unabhängig von einer bekannten diabetischen Stoffwechsellage auch für Patienten ohne Diabetes. Eine knappe Blutzuckereinstellung mit der Gefahr für Hypoglykämien sollte damit in der Intensivmedizin vermieden werden. Aktuell gibt dazu ein Positionspapier der ÖDG den Rat, bei intensivmedizinisch versorgten Patienten unter Insulintherapie Blutzuckerwerte zwischen 140 mg/dl und 180 mg/dl anzustreben (bei bestimmten chirurgischen Kollektiven 110–140 mg/dl), die Blutzuckerwerte insbesondere bei Patienten mit hohem Hypoglykämierisiko (parenterale Ernährung, Therapie mit Glukokortikoiden, Immunsuppressiva oder Octretoid) regelmäßig zu kontrollieren (Clodi et al., Wien Klin Wochenschr 2012).

Auch der SPECS Trial, in welchem nichtdiabetische Säuglinge mit herzchirurgischem Eingriff eingeschlossen wurden, kam zu dem Schluss, dass eine intensivierte Blutzuckerkontrolle (Ziel: 80–110 mg/dl) keinen positiven Einfluss auf den Verlauf hatte. Allerdings war der letztlich erreichte mittlere Blutzucker mit 112 mg/dl vs. 121 mg/dl in der intensiviert therapierten bzw. Standardgruppe nur gering unterschiedlich und die Zeit unter Insulintherapie in der intensiviert therapierten Gruppe bei im Mittel nur 2 Tagen – damit ist ein Ergebnis ohne signifikante Unterschiede verständlich. Im Weiteren kann angenommen werden, dass die für multimorbide Erwachsene beschriebene Vulnerabilität für das untersuchte Kinderkollektiv nicht gilt, was sich auch in einer sehr geringen Zahl schwerer Hypoglykämien (Blutzucker < 40 mg/dl) von 3 % vs. 1 % in der intensivierten vs. Standardtherapiegruppe zeigte.