Editorial 3/2012: Der konstruierte Widerspruch zwischen EBM und Ethik

Die Politik glaubt seit einiger Zeit ein probates Mittel zur Ausgabensenkung entdeckt zu haben, nämlich die Vorgabe von direktiven Maßnahmen im Rahmen der Gesundheitsversorgung. So wurde bereits im Jahre 2004 mit dem Gesundheitsqualitätsgesetz (GQG) ein rechtlicher Rahmen für die Erstellung von Bundesqualitätsleitlinien (BQLL) und Bundesqualitätsrichtlinien (BQRL) geschaffen. Das GQG 2004 unterscheidet also zwischen BQLL, die empfohlen werden, und BQRL, die per Verordnung erlassen werden können und damit verbindlich sind.

Mit der von der Bundesgesundheitskommission im November des letzten Jahres beschlossenen BQLL zur präoperativen Diagnostik (BQLL PRÄOP) liegt nun in Österreich die erste bundesweite Qualitätsleitlinie vor, sie gilt für alle stationären und ambulanten Einrichtungen im österreichischen Gesundheitswesen.
Die Leitlinie basiert auf der Empfehlung (Stellenwert?) zur präoperativen Diagnostik der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) aus dem Jahre 2008, ergänzt nunmehr durch wissenschaftliche Evaluation von verfügbarer Literatur zur präoperativen Diagnostik. Tatsächlich wurden im Rahmen der Erstellung der Leitlinie verschiedene Datenbanken nach Studien durchforstet. Von den mehr als 25.000 bei der Datenbanksuche gefundenen Treffern wurden letztlich 141 Studien berücksichtigt.
Mit der BQLL PRÄOP soll nun ein Korridor (Stellenwert?) gewiesen werden, der die Abläufe vor elektiven Operationen österreichweit standardisiert.
Es ist nicht weiter zu hinterfragen, ob es sich bei der BQLL PRÄOP um eine LL handelt, deren Zustandekommen den international üblichen Usancen entspricht. Tatsächlich wird ja z. B. in Deutschland, je nach Aufwand, bei Erstellung von Leitlinien zwischen S1-, S2- und S3-Leitlinien unterschieden, aus dieser Kategorisierung ergibt sich die Wertigkeit der einzelnen Leitlinien. Basis für die Erstellung auch der weniger hochrangigen S1- und S2-Leitlinien ist allerdings in jedem Fall eine formale Konsensusfindung innerhalb einer repräsentativ zusammengesetzten Expertengruppe einer medizinischen Fachrichtung; dieser sollten einerseits die wissenschaftlichen und andererseits die Berufsverbände angehören. Grundsätzlich sind eine interdisziplinäre Zusammensetzung der Autorengruppe und die interdisziplinäre Abstimmung wünschenswert.
Basis für die deutlich höherwertige und damit auch in ihrer fachlichen Relevanz wertvollere S2-Leitlinie ist die Einbeziehung der aktuellen wissenschaftlichen Evidence im Rahmen einer strikt vorgegebenen Konsensusfindung. Tatsächlich wird wissenschaftliche Evidenz aber nicht selten, fälschlicherweise, mit dem Begriff Evidence-based Medicine (EBM) gleichgesetzt. Nun ist EBM allerdings viel mehr, da neben der besten verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz von den behandelnden ÄrztInnen einerseits auch deren ärztliche Expertise und andererseits sowohl die individuellen Bedürfnisse und Wünsche der PatientInnen als auch die verfügbaren Ressourcen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen sind.
Zweifellos sind evidenzbasierte Leitlinien international längst zum Standard geworden, um Behandlungsqualität zu sichern. Sie haben auch nichts mit Kochbuchmedizin zu tun, sondern dienen als Basis für eine bestmögliche medizinische Versorgung.

Die Reaktion der Österreichischen Ärztekammer (ÖAK) auf die BQLL PRÄOP ließ nicht lange auf sich warten. Die ärztliche Standesvertretung befürchtete umgehende Einschränkung der ärztlichen Entscheidungsfreiheit (Entmündigung) und gab österreichischen Moraltheologen (!) den Auftrag, ein Positionspapier zu erstellen, um ganz generell den Einsatz der EBM bei gesundheitspolitischen und klinischen Entscheidungen einer kritischen, ethisch-orientierten Reflektion zu unterziehen. Im Sinne von Wehret den Anfängen! wird insbesondere festgestellt, dass die BQLL PRÄOP in massiver Weise in die Verantwortlichkeit der handelnden ÄrztInnen eingreift und eine Entwicklung fördert, die das grundlegende Prinzip der ärztlichen Verantwortung in Frage zu stellen droht.

Die Diskussion war eröffnet: So reagierte die Österreichische Gesellschaft für Public Health im Februar 2012 postwendend und ungewohnt klar: Die Grundlage für das Positionspapier der ÖAK stellt eine sehr fragwürdige Auftragsarbeit dar, die keinen wissenschaftlichen Kriterien in Public Health Ethics entspricht und wohl in keiner akademischen Diskussion auch nur ansatzweise bestehen könnte.
Dieser Kritik kann man sich nur vollinhaltlich anschließen, basiert das Ärztekammer-Papier doch einerseits auf Unwissen bezüglich der Inhalte von EBM und andererseits auf der längst überholten Ansicht, dass die Freiheit ärztlichen Handelns als ärztliche Kunst oberstes Gut sei. Tatsächlich werden in dem Positionspapier ärztliches Handeln und medizinische Interventionen mit Nutzen für die PatientInnen gleichgesetzt.
Das Papier überrascht also durch dilettantisches Unwissen und ein erstaunlich paternalistisches Verständnis ärztlichen Handelns; die Realitäten der modernen Gesundheitsversorgung werde völlig ignoriert: Ärztliches Handeln zur Kunst zu erheben, wie im Positionspapier artikuliert, entspricht genauso wenig der modernen Medizin wie auch die Forderung, dass Ärzte sich selbst ein Urteil über die Validität der verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten zu bilden haben. Von Seiten der Österreichischen Ärztekammer wird ja insbesondere auch kritisiert, dass von den mehr als 25.000 Treffern, die bei der Datenbanksuche gefunden worden waren, lediglich 141 Studien in die Übersichtsarbeit aufgenommen wurden, wodurch weite Teile der entscheidungsrelevanten Wirklichkeit ausgeblendet werden. Gerade diese Anmerkung zeigt, dass die Inhalte von EBM nicht verstanden worden sind.
In einer Zeit, in der mehr als 3 Mio. medizinische Artikel pro Jahr publiziert werden, ist professionelles Wissensmanagement der Schlüssel zu optimaler medizinischer Versorgung. Naturgemäß ist es dem Einzelnen/ der Einzelnen unmöglich, diesen enormen Wissenszuwachs alleine zu bewältigen. Und dieses professionelle Wissensmanagement nicht einzusetzen, das wäre tatsächlich ethisch zutiefst bedenklich.

Sehr geehrte Frau Kollegin!
Sehr geehrter Herr Kollege!

Auf Basis des aktuellen GQG 2004 werden keine ausreichend definierten BQLL und noch weniger BQRL erstellt werden können. Noch weniger hilfreich ist in diesem Kontext außerdem die Diskussion zwischen Expertenorganisationen, standespolitischen Einrichtungen und Gesundheitspolitikern. Was Österreich braucht, um die Erkenntnis der EBM in Form von Leitlinien seinen Health Professionals wirksam und transparent anzubieten, ist eine zentrale Koordinationsstelle und ein unabhängiges wissenschaftliches Institut, das Expertengruppen in der Erarbeitung von Grundlagen und der Evaluierung von Leitlinien unterstützt. Solange das nicht der Fall ist, sind BQLL und BQRL gefährlicher österreichischer Kompromiss-Murks und dem Motto: das Gegenteil von gut ist gut gemeint, wie es der Chefredakteur der Zeitung Qualitas so treffend ausgedrückt hat.