Harninkontinenz in der täglichen Praxis

„Burden of Disease“

Zweifellos beeinträchtigt eine Harninkontinenz die betroffenen Frauen in vielen unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens, trotzdem ist sie ein Tabuthema, das die betroffenen Frauen lieber verschweigen und durch Vermeidungsstrategien wie prophylaktische Miktion oder durch Verhaltensanpassungen wie Flüssigkeitsrestriktion eher kaschieren, als durch wirksame Therapien, im Sinne von Verhaltensänderungen oder Medikamenteneinnahme, zu behandeln.

Epidemiologie

Die Harninkontinenz ist bei Frauen weiter verbreitet als andere Erkrankungen und Leiden, wie zum Beispiel Diabetes mellitus, Depression oder arterielle Hypertonie. Die Prävalenz in der weiblichen Gesamtbevölkerung liegt zwischen 25 und 45 %, bei älteren Frauen sogar bis zu 60 %, bei Altersheimbewohnerinnen wird sie sogar mit bis zu 80 % angegeben. In der Schwangerschaft sind je nach Literatur zwischen 32 und 64 % der Graviden inkontinent, postpartal zwischen 15 und 30 %, wobei sich eine abnehmende Tendenz zeigt, je länger die Geburt zurückliegt.
Ganz allgemein liegt in über der Hälfte der Fälle eine Belastungsinkontinenz vor, bei über 20 % eine überaktive Blase und bei etwa 30 % eine Mischinkontinenz. Auch hier gibt es Unterschiede in der Altersverteilung: Frauen unter 50 Jahren leiden häufiger unter Belastungsinkontinenz, ältere Frauen eher an Mischinkontinenz oder an einer überaktiven Blase.

Risikofaktoren

Vaginale Geburten sind generell ein signifikanter Risikofaktor für die Entwicklung einer Harninkontinenz, wobei spezifische Faktoren wie Vakuumgeburt und ein hohes Geburtsgewicht Risikofaktoren für das Auftreten einer unmittelbar postpartal auftretenden Harninkontinenz darstellen. Ein beeinflussbarer Faktor ist die Adipositas, im Weiteren stellt körperliche Belastung bei älteren Frauen ebenfalls einen Risikofaktor dar.
Historisch wurde die Menopause als Risikofaktor für das Auftreten einer Inkontinenz betrachtet. In vielen Studien hat sich aber gezeigt, dass nach der Menopause die Prävalenz der Harninkontinenz zwar nicht generell zunimmt, allerdings scheint der Einfluss in Bezug auf Belastungs- bzw. Dranginkontinenz unterschiedlich zu sein. In einer Studie konnte das vermehrte Auftreten einer Detrusorhyperaktivität postmenopausal urodynamisch nachgewiesen werden. Eine Hysterektomie bleibt zwar ein möglicher Risikofaktor, die Evidenz dazu ist allerdings nicht schlüssig. Eine leichte bis mittelschwere Demenz ist bei älteren Frauen ein unabhängiger Risikofaktor und nicht zuletzt deuten Zwillingsstudien auf eine genetische Komponente hin. Der Stellenwert anderer möglicher Risikofaktoren wie Rauchen, Ernährung, Obstipation, körperliche Belastung und Depression in Bezug auf die Entwicklung einer Inkontinenz ist unklar.

Inkontinenztypen

Unter den verschiedenen Inkontinenzformen sind die Belastungsinkontinenz, die überaktive Blase und ihre Mischform am häufigsten.

Eine Belastungsinkontinenz (früher Stressinkontinenz) ist dadurch gekennzeichnet, dass unter körperlicher Belastung wie Husten, Niesen, Heben von Lasten oder Abwärtsgehen Harnverlust zu verzeichnen ist. Pathophysiologisch betrachtet, kommt es dann zur Inkontinenz, wenn der intravesikale Druck größer ist als der intraurethrale Druck.

Die überaktive Blase mit und ohne Inkontinenz (früher Dranginkontinenz), auch OAB (Overactive Bladder) – volkstümlich Reizblase genannt – ist ein Syndrom, das durch impe­rativen Harndrang, Pollakisurie (mehr als 7 Miktionen pro 24 Stunden) und Nykturie (mehr als 1-mal pro Nacht) gekennzeichnet ist; die Inkontinenz ist fakultativ („dry oder wet“).
Ursächlich besteht eine Übererregbarkeit des Detrusormuskels.

Zu den selteneren Inkontinenzformen der Frau gehören die neurogene überaktive Blase, die Inkontinenz bei chronischer Restharnbildung, die extraurethrale Inkontinenz (Fisteln etc.) und die funktionale Inkontinenz (urogenitale Erkrankungen liegen in diesem Fall nicht vor).

Diagnosestellung

Empfohlen durch die ICS (International Continence Society) wird eine rechtzeite, kosten- und teilweise infrastrukturell aufwändige Abklärung.
Als kürzere Version bewährt sich im klinischen Alltag das folgende Vorgehen:

gezielte Inkontinenzanamnese
körperliche (gynäkologische) Untersuchung
Infektausschluss (Harnröhre und Blase)
Restharnbestimmung
und Führen eines Miktionskalenders

 

Ziel dieser Basisdiagnostik ist es, das Ausmaß der Harninkontinenz zu beurteilen und erste Hinweise für die im Vordergrund stehende Form der Harninkontinenz zu erhalten. Allerdings kann die anamnestische Zuordnung zu einer bestimmten Inkontinenzform im Einzelfall schwierig sein.
Da ein chronischer Harnwegsinfekt oder auch eine Urethritis dem klinischen Bild einer Inkontinenz ähneln können, das therapeutische Vorgehen naturgemäß allerdings unterschiedlich ist, sollte in jedem Fall eine Harnkultur oder einen Urethralabstrich durchgeführt werden.

Therapie

Vor Beginn der Therapie ist es sinnvoll, den Leidensdruck zu erfassen, mögliche therapeutische Maßnahmen sowie deren Ausmaß anzusprechen und ein realistisches Therapieziel mit der Patientin zu formulieren. Generelle Empfehlungen für die Therapie der Belastungs- und Mischinkontinenz sowie der überaktive Blase umfassen konservative Maßnahmen wie Verhaltensänderungen, so u. a. Gewichtsreduktion, Nikotinkarenz, Stuhlregulation, Ernährungsberatung, Physiotherapie, Miktions- und Trinktraining und bei entsprechender Indikation eine lokale Östrogenisierung (Tab. 1).

 

 

Therapie der Belastungsinkontinenz: Beckenbodengymnastik unter physiotherapeutischer Anleitung ist Mittel der Wahl bei der Belastungsinkontinenz. Bei vielen Frauen verbessert sich dadurch die Lebensqualität deutlich, und zumindest vorerst kann ein Eingriff vermieden werden. Zur medikamentösen Therapie wird Duloxetin® eingesetzt. Dieser Serotonin-Noradrenalin-Reuptake-Hemmer soll über eine gesteigerte Neurotransmitterkonzentration den Tonus und die Kontraktilität des Blasenverschlusses verbessern. Allerdings stellt der Einsatz bei dieser Indikation einen Off-Label-Use dar (in Österreich dafür zugelassen, aber nicht kassenfrei!).
Nach Versagen von konservativen Maßnahmen besteht bei entsprechendem Leidensdruck die Möglichkeit von operativen Maßnahmen: Dabei gilt heute die suburethrale Schlingeneinlage (TVT – Tension-free Vaginal Tape) als Goldstandard. Die Erfolgsraten sind auch bei Patientinnen mit höherem Operationsrisiko, so z. B. höherem Alter oder Adipositas gut (über 80 % Heilung oder deutliche Besserung über mehrere Jahre). Im Einzelfall können periurethrale Unterspritzungen mit verschiedenen Substanzen wirksame Therapieoptionen darstellen, eine generelle Empfehlung ist aufgrund der aktuellen Datenlage nicht möglich.

Therapie der überaktiven Blase:

Verhaltensmedizinische Maßnahmen wie die Aufklärung über das richtige Trinkverhalten (richtige Menge zu rechten Zeit), die Vermeidung von Reizstoffen (Koffein u. a.), Blasentraining (Blasenentleerung alle 1–3 Stunden, Intervall langsam in Schritten von 15 bis 30 Minuten verlängern) sowie Techniken zur Drangunterdrückung („Panikgefühl“ unterdrücken, Beckenboden anspannen, ruhiges Atmen, langsam auf die Toilette gehen) sind erwiesenermaßen wirksam und zeigen Erfolgsraten von bis zu 80 %.
Anticholinergika: Die verhaltensmedizinischen Maßnahmen können eine Anticholinergikatherapie (siehe Tab. 2) unterstützen, deren Erfolgsrate bei bis zu 68 % liegt. Die Wirkung der Anticholinergika sistiert nach deren Beendigung.
Lokale Östrogentherapie: Bei postmenopausalen Frauen kann eine lokale Therapie mit einem östrogenhaltigen Präparat Ovestin®, Ortho-Gynest®, Linoladiol® die Drangsymptomatik lindern. In der Regel sollte während 3–4 Wochen 1-mal täglich (am besten vor dem Schlafen) die Creme mittels eines Applikators oder ein Zäpfchen eingeführt werden. Daran anschließend kann eine Erhaltungstherapie mit Applikation 2-mal pro Woche erfolgen. Die Wahl zwischen Zäpfchen und Creme sollte am besten der Patientin überlassen werden, da dies für die Adhärenz entscheidend ist.
Invasive Methoden: Bei Versagen der konservativen Therapie der überaktiven Blase können eine Botoxinjektion, eine Neurostimulation oder auch chirurgische Eingriffe wie eine Blasenaugmentation diskutiert werden.
Alternativmedizin: Und nicht zuletzt können auch alternativmedizinische Ansätze wie Akupunktur, Homöopathie, Kinesiologie etc. hilfreich sein, es empfiehlt sich, sie in jedem Fall anzusprechen und bei entsprechendem Wunsch zu vermitteln.

 

 

FAZIT: Die Therapie von Frauen, die unter Harninkontinenz leiden, hat aufgrund ihrer multifaktoriellen Ursachen ganzheitlich und individualisiert, vor allem aber auch interdisziplinär und evidenzbasiert zu erfolgen. Die Betreuung der betroffenen Frauen ist anspruchsvoll und manchmal für alle Beteiligten frustrierend. Da sich jedoch andererseits auch selbst mit wenig Aufwand schon eine deutliche Verbesserung der Lebensqualität erreichen lässt, lohnt sich der Aufwand.