Wenn die Post-mortem-Untersuchungen des Kindes die trauernden Eltern nicht zur Ruhe kommen lassen − Wie viel ist gut, wie lange ist sinnvoll?

Wenn Eltern den Leidensweg des eigenen Kindes nach dessen Ableben alleine weitergehen, dann in der Hoffnung, einen Grund zu finden – eine Diagnose, mit der sie abschließen können. Doch wenn sich dieser Weg immer und immer weiter in die Länge zieht und zur nervlichen Zerreißprobe wird, dann ist es Zeit, das Gutgemeinte in der Medizin zu hinterfragen: Wie viel ist gut? Wie lange ist sinnvoll?

Leo (Anm.: Name geändert) erblickt am 7. 11. 2015 als erstgeborenes Kind von Eltern mit unauffälliger Eigen- und Familienanamnese nach komplikationsloser Schwangerschaft und vaginaler Entbindung in Gestationswoche 38+0 in einem Wiener Krankenhaus das Licht der Welt. Der 3.000 g schwere Knabe präsentiert sich nach APGAR 8/10/10 zunächst unauffällig. Etwa 3 Stunden später verfällt Leo kardiorespiratorisch, wird erfolgreich reanimiert und unverzüglich auf eine Neugeborenen-Intensivstation verlegt. Bei respiratorischer Azidose und insuffizienter Schnappatmung wird Leo sofort intubiert und einer therapeutischen Hypothermie unterzogen. In weitere Folge zeigt sich Leo lethargisch mit vermindertem Muskeltonus, minimaler Spontanmotorik und nicht auslösbaren Primitivreflexen. Das cMRT am 10. Lebenstag zeigt pathologische Signalalterationen im Bereich der Basalganglien beidseits. Diagnose: Neugeborenen-Asphyxie mit zerebraler Sauerstoffmangelversorgung. Ätiologie unklar.

Die invasiven Untersuchungen der darauffolgenden Tagen und Wochen, darunter eine fundierte Stoffwechselabklärung, genetische Untersuchungen (Karyogramm, CGH-Array und Exom-Sequenzierung), eine Muskelbiopsie, eine Fibroblastenkultur und eine Lumbalpunktion, bleiben allesamt unauffällig.

Was danach folgt, können nur jene nachvollziehen, die den Leidensweg eines Menschen vom Tag 0 an miterlebt haben. Infolge einer akzidentiellen Extubation in der 5. Lebenswoche atmet der Knabe selbstständig. Bei infauster Prognose entschließen sich die Eltern des Knaben zur Unterzeichnung eines AND-Protokolls. Hämodynamisch sowie respiratorisch bleibt das Kind jedoch stabil und so wird Leo nach 16 Wochen stationärem Aufenthalt in die häusliche Betreuung entlassen.
Unterstützt von einer mobilen Krankenschwester pflegen die Eltern den Säugling zu Hause in dem Bewusstsein, dass ihr Sohn früher oder später vermutlich ersticken wird. Am 14. 9. 16, nach 313 Tagen Leidensweg, wird Leo schließlich leblos im Bett aufgefunden.

Weitere 317 Tage später, fast ein Jahr nach Leos Ableben, kommen die Eltern zur letzten Befundbesprechung. Exom-Sequenzierung: unauffällig.
313 Tage Ohnmacht, Wut, Angst, Trauer, Liebe, Hoffnung, Abschiednehmen.
Darauffolgende 317 Tage Warten, Hoffnung, Ohnmacht, Hoffnung, Warten.

Unauffällig, und jetzt? Die moderne Medizin des 21. Jahrhunderts bietet ein enormes Repertoire diagnostischer Möglichkeiten. Überlegungen bezüglich Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der immer tiefer reichenden Diagnostik können sich in einzelnen Fällen ausgesprochen schwierig gestalten. Essenziell erscheint dabei der offene Umgang mit der Erwartungshaltung in Bezug auf die Relevanz der zu erwartenden Befunde.

  • Besteht tatsächlich der elterliche Wunsch nach umfassender Abklärung nach Ableben des Kindes?
  • Wenn ja, warum? (Risikoabklärung für Folgeschwangerschaft? Trauerprozess besser bewältigbar?)
  • Werden die Eltern mit der nächsten Konzeption warten, bis alle Untersuchungsergebnisse vorliegen?
  • Was, wenn keine Diagnose gefunden werden kann?
Korrespondenz an: Dr. Dana Muin, MSc
Abteilung für Geburtshilfe und Fetomaternale Medizin, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Medizinische Universität Wien; Währinger Gürtel 18–20, 1090 Wien