Colloquium-Konferenz | Update seltene neurologische Erkrankungen

Jede individuelle seltene Erkrankung ist für sich genommen selten (Definition: Prävalenz kleiner als 1 : 2000), aber zusammengenommen sind seltene Erkrankungen häufig und daher von großer gesellschaftlicher Bedeutung. Es wird geschätzt, dass weltweit circa 300 Millionen Menschen an einer seltenen Erkrankung leiden, was rund 5 % der Weltbevölkerung entspricht. Nur für etwa 5 % aller seltenen Erkrankungen stehen kausale Therapien zur Verfügung.1
Die Erforschung seltener Erkrankungen und die bestmögliche Behandlung von PatientInnen, die an solchen Erkrankungen leiden, wurde daher in den letzten Jahren von gesundheitspolitischer Seite zunehmend als Priorität wahrgenommen. Beispiele hierfür sind die Gründung des International Rare Diseases Research Consortium (IRDiRC) durch die Europäische Kommission und die National Institutes for Health, die Etablierung der Forschungsplattform European Joint Programme on Rare Diseases (EJP RD) oder die Einrichtung der European Reference Networks (ERN) for rare diseases.
Im Bereich der Neurologie konnten in den vergangenen Jahren nicht nur große Fortschritte im Verständnis von Ursache und Diagnose seltener neurologischer Erkrankungen erzielt werden, sondern auch neue, zum Teil bahnbrechende Therapien entwickelt werden. Ein Beispiel hierfür ist die erfolgreiche Antisense-Oligonukleotid-Therapie für PatientInnen mit spinaler Muskelatrophie.
Den Erfolg neuer Therapien für seltene Erkrankungen begleiten aufgrund der oft sehr hohen finanziellen Kosten aber gesellschaftliche und gesundheitspolitische Diskussionen über das Ausmaß ihrer Verfügbarkeit und Erstattung.
Vor diesem Hintergrund berichteten insgesamt 27 Expertinnen und Experten aus Österreich und dem Ausland im Rahmen des Colloquiums in ihren Vorträgen über neue Entwicklungen aus einem breiten Spektrum verschiedenster seltener neurologischer Erkrankungen.

Board für seltene Erkrankungen

In Salzburg existiert seit 2012 ein sogenanntes „Board für seltene Erkrankungen“, an das PatientInnen, bei denen der Verdacht auf das Vorliegen einer seltenen Erkrankung besteht, zugewiesen werden können. In diesem interdisziplinären Board werden die Fälle von MedizinerInnen verschiedenster Fachrichtungen besprochen; Ziel ist es, unter Bündelung der gemeinsamen Expertise schneller zu einer Diagnose und, wenn möglich, zu einer Therapie für die PatientInnen zu kommen. Wie die Arbeit dieses Boards für seltene Erkrankungen zum Vorteil für die PatientInnen funktionieren kann, wurde anhand eines Fallbeispiels von Assoc.-Prof. Dr. Martin Laimer (Universitätsklinik für Dermatologie, Salzburg) dargestellt.

Evidenzbasierte Leitlinien für seltene Erkrankungen erforderlich

Univ.-Prof. Dr. Eugen Trinka (Universitätsklinik für Neurologie, Salzburg) wies in seinem Vortrag am Beispiel der seltenen und komplexen Epilepsien auf die Notwendigkeit von evidenzbasierten Leitlinien für die Diagnostik und Therapie von seltenen Erkrankungen hin, zeigte aber gleichzeitig die Limitationen und Probleme auf, die dabei speziell für seltene Erkrankungen bestehen (z. B. Mangel an randomisierten kontrollierten Studien).

Diskussion über Kosteneffektivität

Über die gesellschaftlichen und ethischen Herausforderungen im Zusammenhang mit den finanziellen Kosten von Therapien für seltene Erkrankungen berichtete Prof. Tony Marson (University of Liverpool). Ein entscheidendes Kriterium für die Entscheidung darüber, ob die Kosten einer Therapie im Gesundheitswesen erstattet werden, ist der Parameter der Kosteneffektivität, der die Kosten einer Therapie in Relation zum Gewinn an „quality-adjusted life years“ durch diese Therapie setzt. Marson berichtete, dass der Grenzwert der Kosteneffektivität, ab der ein Medikament nicht mehr erstattet wird, z. B. in Großbritannien deutlich niedriger ist als in Deutschland, was zur Folge hat, dass in Großbritannien deutlich weniger Therapien für seltene Erkrankungen erstattet werden und dadurch zugänglich sind, als in Deutschland. Marson konstatierte, dass eine gesellschaftliche Diskussion darüber, wie viel wir als Gesellschaft für die Behandlung von seltenen Erkrankungen auszugeben bereit sind, nötig sei, und dass weiterer Fortschritt in der Behandlung von seltenen Erkrankungen in Zukunft nicht nur allein von wissenschaftlichen Erfolgen, sondern mehr vom politischen Willen abhängig sein werde.

Kausale Therapie für CLN Typ 2 verfügbar

Eine sehr seltene neurologische Erkrankung, bei der seit kurzem eine kausale und wirksame Therapie zur Verfügung steht, ist die neuronale Ceroid-Lipofuszinose (CLN) Typ 2. Die CLN umfasst eine Gruppe von monogenetisch, autosomal-rezessiv vererbten neurodegenerativen Erkrankungen, bei denen es durch Mutationen in lysosomalen Enzymen zur abnormen Speicherung von Protein in den Lysosomen kommt, und die klinisch durch das Auftreten von Demenz, Epilepsie, Erblindung und den progressiven Verlust der motorischen und sprachlichen Fähigkeiten mit Beginn in der 1. Lebensdekade charakterisiert ist. Für PatientInnen mit CLN Typ 2 konnte gezeigt werden, dass eine Enzymersatztherapie mittels intrazerebroventrikulärer Infusionen von Cerliponase alfa den Verlust motorischer und sprachlicher Fähigkeiten im Vergleich zu einer historischen Kontrollgruppe signifikant reduziert.2 Dr. Nicola Specchio (Ospedale Pediatrico Bambino Gesú, Rom), der an der Durchführung dieser Studie beteiligt war, präsentierte die Daten der Arbeit und zeigte anhand von Fallbeispielen den klinischen Verlauf der CLN Typ 2 und die Effekte der Enzymersatztherapie.

Effektivität der Antisense-Oligonukleotid-Therapie

Die beeindruckenden Daten für die Effektivität der neuen Antisense-Oligonukleotid-Therapie (Nusinersen) bei Kindern mit spinaler Muskelatrophie wurden von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Löscher (Universitätsklinik für Neurologie, Innsbruck) zusammengefasst. Es ist möglicherweise noch effektiver, das mutierte SMN1-Gen durch ein gesundes SMN1-Gen mittels einmaligem Transfer durch einen adenoassoziierten Virusvektor zu ersetzen. Unklar ist derzeit, ob und in welchem Ausmaß die Antisense-Oligonukleotid-Therapie bei erwachsenen SMA-PatientInnen wirksam ist. Empfehlungen zur möglichen Anwendung von Nusinersen bei Erwachsenen sind in einem Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für neuromuskuläre Erkrankungen der ÖGN festgehalten.3

Kausaler Therapieansatz bei SPG 5

Die hereditäre spastische Paraplegie (SPG) umfasst eine sehr heterogene Gruppe von neurodegenerativen Erkrankungen, die durch eine Degeneration des 1. Motoneurons definiert sind. Priv.-Doz. Dr. Rebecca Schüle (Zentrum für Neurologie und Hertie-Institut für klinische Hirnforschung, Tübingen) und ihre Arbeitsgruppe konnten den ersten kausalen Therapieansatz für eine Subform der hereditären spastischen Paraplegie, SPG 5, demonstrieren.4 SPG 5 entsteht durch eine rezessive Mutation in einem Gen, das für die Oxysterol-7α-Hydroxylase kodiert, ein Enzym, das im Abbau von Cholesterin zu Gallensäuren involviert ist. Im Serum und im Liquor von PatientInnen mit SPG 5 fanden Schüle und ihr Team erhöhte Konzentrationen von mehreren Substraten (z. B. 27-Hydroxycholesterol) dieses Enzyms. Anschließend konnten sie nachweisen, dass Konzentrationen dieser Substrate, wie sie bei PatientInnen mit SPG 5 gefunden werden, in vitro toxisch für menschliche Neuronen sind. Basierend auf diesen Ergebnissen wurde eine randomisierte placebokontrollierte Studie mit Atorvastatin bei PatientInnen mit SPG 5 durchgeführt. Atorvastatin konnte die Konzentration von 27-Hydroxycholesterol im Serum von SPG-5-PatientInnen gegenüber Placebo signifikant reduzieren. Die Dauer der Studie war mit 9 Wochen zu kurz, um klinische Effekte nachweisen zu können. Das Beispiel der SPG 5 zeigt aber, wie durch das Verständnis von Genetik und Pathomechanismus durch „drug repurposing“ rasch zu einer kausalen und möglicherweise vielversprechenden Therapie einer seltenen Erkrankung führen kann.

Neuropathische Schmerzen bei M. Fabry wirksam behandeln

Schon seit längerem steht eine Enzymersatztherapie zur Behandlung des Morbus Fabry zur Verfügung. Prof. Dr. Max-Josef Hilz (Universitätsklinikum für Neurologie, Erlangen) ging in seinem Vortrag besonders auf die autonome Dysfunktion und die neuro­pathischen Schmerzen der PatientInnen mit M. Fabry ein, welche sich beide durch die Substitution von Alpha-Galactosidase A wirksam behandeln lassen, wie Hilz und seine Arbeitsgruppe in ihren Arbeiten zeigen konnten.5

Epilepsie: Aktuelle Forschungsergebnisse

Vorträge zu den Epilepsieerkrankungen bildeten einen weiteren Schwerpunkt des Programms: Prof. Matthew Walker (University College London) gab einen Überblick über den Stand der präklinischen Forschung zu verschiedenen Ansätzen von Gentherapien bei fokalen Epilepsieerkrankungen. Eine erste klinische Phase-I-Studie bei PatientInnen mit fokaler Epilepsie, bei denen ein modifiziertes Gen, das für einen bestimmten Kaliumkanal (Kv1.1) kodiert, mittels Lentivirusin in das ZNS der PatientInnen eingeschleust werden soll, befindet sich laut Walker in Planung. Prof. Helen Cross (Great Ormond Street Hospital, London) und Dr. Martin Krenn (Medizinische Universität Wien) berichteten in ihren Vorträgen über den unterschiedlichen Zugang zur genetischen Diagnostik bei Kindern respektive Erwachsenen mit Epilepsie.
Prof. Dr. Martha Feucht (Medizinische Universität Wien) fasste in ihrem Vortrag die vorliegende Evidenz für die Wirksamkeit des mTOR-Inhibitors Everolimus bei PatientInnen mit Tuberöser Sklerose zusammen, der in den vergangenen Jahren zur Behandlung von subependymalen Riesenzellastrozytomen, renalen Angiomyolipomen und zuletzt auch von therapierefraktärer Epilepsie zugelassen worden ist.
Prof. Dr. Lieven Lagae (University Hospitals KU Leuven) sprach über den aktuellen Stand der Behandlung des Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndroms und präsentierte erfolgsversprechende Daten aus eigenen Fallstudien zur Therapie mit Fenfluramin beim Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndrom, basierend auf denen basierend aktuell Phase-III-Studien mit Fenfluramin bei beiden Epilepsiesyndromen durchgeführt werden.6, 7 Positive Phase-III-Studien gibt es bereits für Cannabidiol zur Behandlung des Dravet- und Lennox-Gastaut-Syndroms – Trinka gab ein Update zur Datenlage und sprach über die großen Erwartungen vieler PatientInnen und die Kontroversen rund um das Thema Cannabis in der Epilepsie. Dr. Caroline Neuray (Universitätsklinik für Neurologie, Salzburg) diskutierte in ihrem Vortrag die speziellen pathogenetischen Mechanismen der Epileptogenese bei mitochondrialen Enzephalopathien.

Neues aus der Neuroonkologie

Mehrere Vorträge kamen aus dem Gebiet der Neuroonkologie: Dr. Waltraud Kleindienst (Universitätsklinik für Neurologie, Salzburg) informierte über neurologische Komplikationen der neuen Immuntherapien aus der Onkologie (z. B. Hypophysitis als Nebenwirkung von CTLA-4-Hemmern; durch PD-1/PD-L1 Inhibitoren induzierte Myasthenia gravis). Priv.-Doz. Dr. Markus Hutterer (Kepler Universitätsklinikum, Neurologie, Linz) gab Einblicke in Fortschritte und zukünftige Methoden in der Bildgebung von Hirntumoren.

Inflammatorische ZNS-Erkrankungen

Ein weiterer Fokus des Colloquiums war auf inflammatorische ZNS-Erkrankungen gerichtet: Univ.-Prof. Dr. Fritz Leutmezer (Medizinische Universität Wien) wies in seinem Vortrag auf das breite Spektrum der Differenzialdiagnosen der Multiplen Sklerose hin. Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Paulus Rommer (Medizinische Universität Wien) besprach systemische Vaskulitiden und ihre ZNS-Beteiligungen sowie die primäre ZNS-Vaskulitis. Assoc.-Prof. DDr. Johann Sellner und Priv.-Doz. Dr. Peter Wipfler (beide Universitätsklinik für Neurologie, Salzburg) diskutierten den Einsatz von Stammzelltherapien in der Behandlung der MS (autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation und mesenchymale Stammzelltherapie) beziehungsweise die Rolle des Epstein-Barr-Virus und des humanen Herpesvirus 6 in der Entstehung der MS.

Autoimmunenzephalitiden, auto­immune autonome Gangliono­pathie und Neurosarkoidose

State-of-the-art-Vorträge über spannende seltene neurologische Krankheitsbilder wie Autoimmunenzephalitiden (Dr. Fabio Rossini, Universitätsklinik für Neurologie, Salzburg), Myasthenia gravis (Priv.-Doz. Dr. Raffi Topakian, Klinikum Wels-Grieskirchen), autoimmune autonome Ganglionopathie (Assoc.-Prof. Priv.-Doz. Dr. Walter Struhal, Universitätsklinikum Tulln) und Neurosarkoidose (OA Dr. Michael Guger, Kepler Universitätsklinikum Linz) rundeten das Programm des diesjährigen Colloquiums ab.

Fazit

Das gut besuchte „Colloquium – Update seltene neurologische Erkrankungen“ überzeugte mit einem hochwertigen wissenschaftlichen Programm und war eine gelungene Fortbildungsmöglichkeit und Diskussions­plattform zum Thema „seltene neurologische Erkrankungen“.

 

1 https://www.ngocommitteerarediseases.org, abgerufen am 10.06.2019
2 Schulz et al., Study of Intraventricular Cerliponase Alfa for CLN2 Disease, NEJM, 2018
3 Löscher et al., Positionspapier, Behandlung der spinalen Muskelatrophie im Erwachsenenalter mit Nusinersen, neurologisch, 03/2018
4 Schöls et al., Hereditary spastic paraplegia type 5: natural history, biomarkers and a randomized controlled trial, Brain, 2017
5 Hilz MJ et al., Enzyme replacement therapy improves function of C-, Adelta-, and Abeta-nerve fibers in Fabry neuropathy, Neurology, 2004
6 Ceulemans B et al., Five-year extended follow-up status of 10 patients with Dravet syndrome treated with fenfluramine, Epilepsia, 2016
7 Lagae L et al., A pilot, open-label study of the effectiveness and tolerability of low-dose ZX008 (fenfluramine HCl) in Lennox-Gastaut-Syndrome, Epilepsia, 2018