Gang und Kognition


Die Koinzidenz von Demenz und geriatrischen Stürzen ist hinlänglich bekannt, so haben kognitiv beeinträchtigte Menschen ein Sturzrisiko von 60–80 % pro Jahr, was einer Verdoppelung des Risikos gegenüber kognitiv intakten Personen entspricht. Die Auswirkungen der Stürze mit Frakturen, Kopfverletzungen und erhöhter Sterblichkeit sind durchaus dramatisch.


Exekutive Dysfunktion: Traditionell werden der Verlust kognitiver Funktionen und die Einschränkung der Mobilität im Alter als parallel ablaufende Phänomene betrachtet. Die Mechanismen, die dem höheren Sturzrisiko kognitiv beeinträchtigter Personen zugrunde liegen, sind bis dato nicht genau aufgeklärt. Unter anderem konnte gezeigt werden, dass für Aufgaben mit Anforderungen an die Aufmerksamkeit vermindert Ressourcen allokiert werden, was posturale Stabilität und Gehvermögen beeinträchtigt. Zentral scheint dabei die Exekutivfunktion zu sein: Beeinträchtigungen dieser Domäne sind besonders stark mit Demenz und Sturzrisiko verbunden, als dafür relevante Netzwerke werden das präfrontoparietale Areal ebenso wie der Gyrus cinguli angesehen. In sonst gesunden Alterskollektiven ist die exekutive Dysfunktion mit einem deutlich erhöhten Sturzrisiko und schwereren Sturzfolgen verbunden (OR 1,44; 95%-KI 1,2–1,73).


Gehgeschwindigkeit und kognitiver Ab­bau: Umgekehrt wurde gezeigt, dass eine Verlangsamung der Gehgeschwindigkeit häufig mit einem kognitiven Abbau assoziiert ist. Die Verlangsamung der Gehgeschwindigkeit kann dabei einige Jahre, bevor die kognitiven Symptome das Ausmaß eines Mild Cognitive Impairments (MCI) erreichen, nachgewiesen werden. So überrascht es nicht, dass jene MCI-PatientInnen, die zu einer Demenz konvertieren, häufiger unter Gangstörungen und Stürzen leiden.
Unter diesen Aspekten scheint Gehen nicht eine einfache automatisierte motorische Aufgabe zu sein, sondern komplex: So ist Aufmerksamkeit für verschiedenste Umgebungsfaktoren ebenso gefordert wie eine Reaktionsfähigkeit auf Außeneinflüsse. Es ist daher nachvollziehbar, dass Defizite in Aufmerksamkeit und Exekutivfunktion zu Problemen mit dem Gehvermögen und der posturalen Stabilität führen.
Bereits 1997 konnte in der bahnbrechenden Studie „Stops walking while talking“ gezeigt werden, dass die Unfähigkeit, eine Konversation während des Gehens fortzuführen, mit einem erhöhten Sturzrisiko verbunden ist. Diese Dual-Task-Paradigmen, die während des Gehens eine zweite, die Aufmerksamkeit fordernde Aufgabe beinhalten, wurden seither weiterentwickelt, um die Interaktionen zwischen Gehen und kognitiver Leistung zu beleuchten. Man kann davon ausgehen, dass zwei gleichzeitig ausgeführte Aufgaben miteinander interferieren und um Reserven der Hirnleistung konkurrieren. Dual-Task-Aufgaben sind daher geeignet, subtile Beeinträchtigungen der Hirnleistung frühzeitig zu identifizieren.

Prädiktiver Parameter Schrittvariabilität: Ergänzend mehren sich Hinweise, dass neben der Gehgeschwindigkeit auch die Schrittvariabilität ein sensibler prädiktiver Parameter für Stürze ist. Die Variabilität des Gangzyklus („stride time“ – Zeit für einen Doppelschritt) zeigt eine inverse Assoziation zur Gangstabilität und ist relativ einfach (z. B. mit drucksensitiven Ganganalysesystemen) messbar. So wurde eine höhere Variabilität der „stride time“ bei Patienten mit Frailty, Parkinson und Alzheimer festgestellt. Eine erhöhte Variabilität der „stride time“ ist Ausdruck reduzierter rhythmischer Kontrolle der Schrittmechanismen und kann daher als sensitiver Marker der Dysfunktion der frontalen kortikalen Kontrolle angesehen werden.

Motoric Cognitive Risk Syndrome: Daten über die Assoziation zwischen Störungen der Exekutivfunktion und Sturzrisiko liegen auch von prospektiven Studien vor: So konnte gezeigt werden, dass das Sturzrisiko bei Defiziten von Exekutivfunktion, Aufmerksamkeit und Schrittvariabilität unter Dual-Task-Bedingungen bei voll mobilen, nichtdementen älteren Menschen vorhergesagt werden kann.
Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wurde das Konzept des „motoric cognitive risk syndromes“ entwickelt (MCR). Dieses Syndrom ist definiert als das Vorhandensein von kognitiven Beschwerden (15-items CERAD Questionnaire) und verlangsamtem Gehen (zumindest eine Standardabweichung unter den alters- und geschlechtsspezifischen Mittelwerten für die Gehgeschwindigkeit), wobei die Betroffenen nicht dement und voll alltagskompetent waren. PatientInnen mit dem MCR hatten ein deutlich höheres Risiko, eine Demenz zu entwickeln (HR adjustiert auf Alter, Geschlecht und Ausbildung 3,27; 95%-KI 1,55–6,90), insbesondere eine vaskuläre Demenz (adjustierte HR 12,81; 95%-KI 4,98–32,97).
Die AutorInnen schließen, dass das MCR-Syndrom ein hohes klinisches Risiko mit einer starken prädiktiven Aussagekraft für das Auftreten einer Demenz, insbesondere einer vaskulären Demenz definiert und als Risikokonstellation analog dem MCI gewichtet werden kann. Die starke Assoziation mit der vaskulären Demenz wird über das Vorliegen von White Matter Lesions und subkortikalen Infarkten erklärt, die mit einer verringerten Gehgeschwindigkeit bei Älteren assoziiert sind.
Andere Publikationen legen nahe, dass quantitative Tests Veränderungen des Gehvermögens bei Individuen mit MCI nachweisen können. So zeigten PatientInnen mit MCI, die in den Domänen Aufmerksamkeit, Exekutivfunktion und Arbeitsgedächtnis Defizite hatten, eine geringere Gehgeschwindigkeit besonders unter Dual-Task-Bedingungen. In dieser Gruppe fand sich auch eine höhere Variabilität der zeitabhängigen Gangparameter.


Präventive Strategien: Diese Erkenntnisse werden in zunehmendem Maß in präventive Strategien einbezogen. Sturzpräventionsprogramme bei kognitiv beeinträchtigten Personen sind bis dato nur wenig erfolgreich, während für kognitiv intakte Menschen effektive Maßnahmen etabliert sind, die auf Kraft- und Balance-Training, Modifikation der Umgebung, Ausgleich von sensorischen Defiziten und optimierter Medikation beruhen.
Möglicherweise können Interventionen, die auch kognitive Förderung beinhalten, neue Ansätze für kognitiv beeinträchtigte Personen generieren. So zeigen Pilotstudien, dass kognitive Trainingsprogramme positive Auswirkungen auf die Gehgeschwindigkeit sowohl unter normalen als auch unter Dual-Task-Bedingungen haben. Auch ein 12-Wochen-Dual-Task-Programm mit zunehmend komplexen Übungen zeigte positive Auswirkungen auf Gangparameter. Es gibt auch kleine Studien zu den Effekten von Cholinesterasehemmern auf die motorische Performance älterer Menschen. So konnte gezeigt werden, dass motorische Leistungen unter Dual-Task-Bedingungen unter Therapie mit Cholinesterasehemmern besser werden, für Memantin konnten günstige Effekte auf die Variabilität der „stride time“ nachgewiesen werden.
Alle diese Ergebnisse bedürfen einer Bestätigung in prospektiven Studien, doch bieten komplementäre Ansätze, die neben den motorischen Fähigkeiten auch eine Förderung der Kognition beinhalten, neue Aspekte in der Prävention von Stürzen und Immobilität alter Menschen.

 

Literatur:
– Montero-Odasso M, Verghese J, Beauchet O, Hausdorff JM, Gait and Cognition: A Complementary Approach to Understanding Brain Function and the Risk of Falling. J Am Geriatr Soc 2012 Oct 30; doi: 10.1111/j.1532-5415.2012.04209.x. [Epub ahead of print]. PMID: 23110433

– Verghese J, Wang C, Lipton RB, Holtzer R, Motoric Cognitive Risk Syndrome and the Risk of Dementia. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2012 Sep 17; [Epub ahead of print]. PMID:22987797
– Mirelman A, Herman T, Brozgol M, Dorfman M, Sprecher E, Schweiger A, Giladi N, Hausdorff JM, Executive function and falls in older adults: new findings from a five-year prospective study link fall risk to cognition. PLoS One 2012; 7(6):e40297 [Epub 2012 Jun 29]. PMID: 22768271