„Para“-neurologische Rückenschmerzsyndrome

Bei Rückenschmerzen (RS) ist die Gefahr einer Schmerzchronifizierung hoch, die Prävalenz wird auf ca. 20 % geschätzt. Risikofaktoren für die Entwicklung eines chronischen Schmerzsyndroms sind u. a. Arbeitslosigkeit, ein niedriger sozioökonomischer Status, eine begleitende depressive Symptomatik und private Belastungsfaktoren, diese werden als „yellow flags“ bezeichnet.

 

 

Diagnostischer Algorithmus

Eine Einteilung kann in spezifische RS mit klar definierten Ursachen wie Tumor, Entzündung, osteoporotische Frakturen, Diskusprolaps etc. oder den viel häufigeren unspezifischen RS (bis zu 85 %)3 erfolgen. Diese strahlen pseudoradikulär zwar ebenfalls teilweise in die unteren Extremitäten aus, selten aber distal der Kniekehle. Wichtig erscheint, dass bei der Behandlung von RückenschmerzpatientInnen ein diagnostischer Algorithmus eingehalten wird.
Unabdingbar ist zunächst eine subtile Anamnese mit Berücksichtigung der sogenannten „red flags“ als Warnhinweis für spezifische Kreuzschmerzen, die ohne Verzögerung einer weiterführenden Abklärung und Therapie bedürfen.
Dem folgt eine klinisch-neurologische Untersuchung mit Inspektion des Patienten/der Patientin, Überprüfung der Nervendehnungszeichen und des Trendelenburg-Zeichens, Beurteilung des Finger-Boden-Abstands, Druckschmerzhaftigkeit der Valleix-Punkte und Überprüfung der Sensomotorik. Kenntnisse in einigen einfachen zusätzlichen, aber sehr aussagekräftigen Tests erleichtern deutlich die Diagnostik und ätiologische Zuordnung. So ergeben sich bereits mit Überprüfung der Flexion und Extension häufig wesentliche Hinweise, da bei Bandscheibenvorfällen im unteren Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) vor allem die Flexion schmerzhaft ist, während Affektionen der Facettengelenke etc. eher zu Schmerzen bei der Extension führen. Der simple 3-Stufen-Hyperextensionstest kann in 3 Schritten helfen, die Störung im Hüftgelenk, Iliosakralgelenk (ISG) oder im lumbosakralen Übergangsbereich zu lokalisieren4.
Akut aufgetretene Schmerzen sind prognostisch günstig und zumeist auch einfach zu diagnostizieren, Schwierigkeiten ergeben sich sowohl für Arzt/Ärztin als auch PatientIn bei drohender oder bereits bestehender Chronifizierung. Hier ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachdisziplinen unabdingbar. Psychosoziale Aspekte sollten besondere Beachtung erhalten, um z. B. Patienten mit somatoformen Schmerzstörungen identifizieren zu können. Zur Differenzierung von organischen und nichtorganischen Schmerzen wurden spezielle Testbatterien entwickelt5.
Zu beachten gilt auch, dass mehrfach in Studien nachgewiesen wurde, dass eine Vielzahl von ProbandInnen mit Bandscheibendegenerationen im MRT und mäßigen Protrusionen und Prolapsen beschwerdefrei sind, und somit bei MRT-Befunden mit fehlendem klinischem Korrelat besondere Vorsicht geboten ist11.

Erkennen unspezifischer RS: Wir Neurologen und Neurologinnen werden im Alltag häufig mit lumbalen Schmerzsyndromen konfrontiert. Unsere Ausbildung ist so konzipiert, dass wir vor allem die spezifischen RS-Entitäten wie z. B. radikuläre Syndrome schnell erkennen, obwohl unspezifische RS bei entsprechenden Kenntnissen mit etwas Erfahrung häufig ebenfalls leicht zu diagnostizieren wären. Hier sind einige „Tipps“, um die beliebte, aber ungenaue Diagnose Lumbago vermeiden zu können. Es werden in weiterer Folge übersichtsmäßig einige häufige dieser Schmerzsyndrome beschrieben, u. a. das Facettensyndrom, das ISG-Syndrom, die Coccygodynie, der diskogene Schmerz und das myofasziale Schmerzsyndrom mit der Sonderform des Piriformis-Syndroms.
Als diagnostische Erleichterung bei einer Vielzahl von komplizierten manuellen Untersuchungsmethoden ist zu erwähnen, dass wegweisend häufig ein lokaler Druckschmerz über der betroffenen anatomischen Struktur besteht.

Coccygodynie (C)

Die Coccygodynie wird als ziehender oder brennender Schmerz in der Steißbeingegend, der beim Sitzen und der Defäkation oft verstärkt und beim Liegen meist rückläufig ist, beschrieben8. Zumeist sind Frauen betroffen. Anamnestisch lässt sich gelegentlich ein vorangegangener Sturz auf das Gesäß erfragen, aber auch postpartal kann es zur Coccygodynie kommen. Eine Coccygodynie kann postoperativ nach einer Rektumoperation auftreten, auch Raumforderungen oder benachbarte entzündliche Prozesse können zugrunde liegen. Bei der Mehrzahl der Patienten bleibt die Ursache unklar6. Die Untersuchung erfolgt mittels Palpation von extern oder transrektal.
Radiologisch lässt sich gelegentlich eine Fraktur des Steißbeins nachweisen oder es zeigt sich eine Subluxation in eine Anteversionsstellung8. Therapeutisch empfiehlt sich neben körperlicher Schonung die Gabe von Analgetika; Physiotherapie und Manualtherapie kommen zur Anwendung. Besonderer Bedeutung kommt unserer Erfahrung nach der Mobilisation zu, dabei wird von transrektal versucht, das ventralisierte kaudale Ende des Os coccygis mit der Mittelfingerkuppe zu dorsalisieren4. Eine Injektion mit Lokalanästhetika (LA) und/oder Kortikosteroiden ist ebenfalls möglich. Bei Therapieresistenz gegenüber den klassischen Behandlungsmethoden lassen sich gute Ergebnisse mit der gepulsten Radiofrequenztherapie erzielen10. Eine Resektion des Os coccygis wird kontrovers diskutiert, allgemein wird wegen schlechter Ergebnisse und der Möglichkeit schwerer Komplikationen davon abgeraten.

Facettensyndrom

Das Facettensyndrom ist häufig bedingt durch Reizzustände der unteren lumbalen Wirbelbogengelenke6. Zumeist ist die genaue Ursache unklar, oft bestehen auch zusätzlich Pathologien im Bereich der Bandscheibe. Das Facettensyndrom ist eine relativ seltene Ursache für einen unspezifischen RS (7–15 %)11. Klinisch leiden die PatientInnen an diffus-flächigen, oft tiefen, stechend-brennenden, teils auch einschießenden Schmerzen, die bei Hyperlordosierung im Gegensatz zum Diskusprolaps zunehmen. Im Bereich der LWS strahlen diese z. T. pseudoradikulär in die unteren Extremitäten aus, oft findet sich ein muskulärer Hartspann mit Triggerpunkten.
Bei der Untersuchung kann sowohl eine Blockade im betroffenen Wirbelsäulensegment als auch ein Rüttel- und Klopfschmerz nachgewiesen werden. Im Röntgen zeigen sich oft Fehlstellungen und – allerdings nicht zwingend – Spondylarthrosen7. Eine definitive Diagnose kann durch nervale Blockade oder intraartikuläre Anästhesie dieser Gelenke gestellt werden, wobei zweimalig eine positive diagnostische Blockade mit Lokalanästhetika gefordert ist11.
Therapeutisch wird neben Analgetika eine manuelle Mobilisierung und Physiotherapie empfohlen. Eingeschränkte Evidenz liegt für eine invasive intraartikuläre Facettenblockade, die Blockade der medialen Äste des Ramus dorsalis oder eine perkutane Thermokoagulation vor. Eine Facettendenervierung ist bei ausgeprägten therapieresistenten Schmerzen bei positiver diagnostischer Blockade eine therapeutische Option, auch wenn diesbezüglich keine gute Evidenz vorliegt.

ISG-Syndrom

Das ISG-Syndrom ist in 15–20 % der Fälle ursächlich für Rückenbeschwerden11. Schmerzen entstehen durch Blockade oder Arthrose des ISG oder durch Bandlockerung. Klinisch werden Schmerzen im Gesäß und Sakrum, zum Teil mit Ausstrahlung in den dorsolateralen Oberschenkel und Unterschenkel beklagt. Diese können durch Heben von Lasten und Aufrichten aus dem Bücken provoziert werden und nehmen oft im Tagesverlauf zu.
Untersucht wird u. a. das Menell’sche Manöver, hierbei liegt der Patient/die Patientin mit dem gesunden und in der Hüfte gebeugten Bein unten auf der Seite, das obige wird retroflektiert, wodurch es zu Schmerzen im ISG kommt. Beim Vorlaufphänomen werden beim stehenden Patienten/bei der stehenden Patientin die Hände auf den Darmbeinkamm gelegt, die Daumen liegen auf den Spinae il. post. sup. Bei der Rumpfbeugung kommt es ipsilateral zu einem Daumenhochstand. Beim Federtest liegt der Patient/die Patientin auf dem Bauch und Druck auf die Spina il. post. sup. nach ventral verursacht Schmerzen. Druck auf das benachbarte Sacrum bessert diese.
Therapeutisch wird neben Physiotherapie und Analgetika sowohl Wärme als auch Kälte empfohlen. Schlechte Evidenz liegt für Steroide lokal oder eine Thermokoagulation von versorgenden Nervenfasern vor. Unserer Erfahrung nach lässt sich mit lokaler Steroidinfiltration oft längerfristig eine deutliche Besserung der Beschwerden erzielen.

Piriformis-Syndrom

Vom Piriformis-Syndrom sind vor allem Frauen (6 : 1) betroffen. Es handelt sich dabei um ein Engpasssyndrom mit einer Irritation des N. ischiadicus und/oder des N. glutaeus inf. an der Durchtrittstelle zwischen M. piriformis und Foramen infrapiriforme5. Prädisponierend sind u. a. Gesäßtraumen und Bettlägerigkeit.
Klinisch treten Schmerzen im Gesäß beim Umdrehen von der Seite auf den Rücken auf, die bis in den Oberschenkel (OS) oder noch weiter distal und dann streng im Versorgungs­gebiet des N. ischiadicus ausstrahlen12, gelegentlich kommt es auch zu Parästhesien, aber nur selten zu objektivierbaren Sensibilitätsstörungen. Peronealbetonte Paresen sind die Ausnahme.
Bei der Untersuchung zeigt sich eine Außenrotation des OS, selten liegt eine Atrophie des M. glut. max. vor. Typischerweise besteht ein Palpationsschmerz zwischen Sacrum und Trochanter major oder rektal des M. piriformis. Beim Freiberg-Manöver wird im Liegen eine kräftige passive Innenrotation des gestreckten OS des Patienten/der Patientin durchgeführt, beim Manöver nach Pace eine aktive Abduktion und Außenrotation in sitzender Position.
Therapeutisch empfiehlt sich neben Analgetika eine Korrektur von biomechanischen Faktoren wie Beinlängendifferenzen sowie eine Adaptierung von Sitzgelegenheiten, des Weiteren werden Dehnübungen des Muskels, lokale Kälteanwendungen und Injektionen mit LA oder Steroiden empfohlen, in seltenen Fällen die operative Neurolyse. Auch für die Effektivität von Botulinumtoxin liegen Hinweise vor13.

Myofasziales Schmerzsyndrom (MS)

Das myofasziale Schmerzsyndrom beschreibt von umschriebenen muskulären Triggerpunkten ausgehende Schmerzen mit reproduzierbarem Ausstrahlungsmuster durch Druck auf dieselbigen. Ursächlich kommt es bei einem überlasteten Muskel hypothetisch zu einer O2-Unterversorgung und zu einer Hemmung der Wiederaufnahme von Ca in das sarkoplasmatische Retikulum und damit zu einer Dauerkontraktion von einzelnen Sarkomeren, die als Kontrakturknoten tastbar sind. Lokal sind vermehrt Entzündungsmediatoren nachweisbar. Ein Beispiel dafür wäre z. B. das Glutaeus-medius-Syndrom, auch bekannt als „runners hip“ durch häufige lokale Überlastung bei untrainierten SportlerInnen.
Klinisch lassen sich regionale und reproduzierbare Schmerzen mit Triggerpunkte im Muskel, verhärteten Muskelsträngen („taut band“) und eingeschränkter Muskelbeweglichkeit nachweisen, durch Muskeldehnung oder Injektion von LA an die Triggerpunkte lassen sich die Schmerzen reduzieren, typisch sind tastbare Muskelzuckungen bei mechanischer Stimulation des Triggerpunkts. Lokal sind oft vegetative Störungen evident. Im Gegensatz dazu zeigen sich an den druckschmerzhaften „tender points“ des Fibromyalgiesyndroms keine „taut bands“ und keine provozierbaren Muskelzuckungen.
Therapeutisch gilt es, Auslöser zu beseitigen; Analgetika und Muskelrelaxanzien kommen zur Anwendung. Daneben können Triggerpunkte lokal mit Kältespray behandelt und dann gedehnt werden. Lokale Infiltrationen mit Botulinumtoxin oder Kortison sind „off label“, bei therapieresistenten Schmerzen jedoch durchaus zu erwägen. Auch Physiotherapie mit Massagen/Dehnungsübungen und die Muskelrelaxation nach Jacobson werden empfohlen.

Diskogene Schmerzen (DS)

Diskogene Schmerzen entstehen durch degenerative Veränderungen der Bandscheiben, prädisponierend sind hierfür genetische Faktoren verbunden mit mechanischer Überbelastung.
Obwohl diskogene Schmerzen als sehr häufige und wesentliche Ursache für RS angesehen werden, haben sie im diagnostischen Alltag kaum eine Relevanz, da sie nur schwer nachzuweisen sind. Therapeutisch stehen zusätzlich 3 invasive Möglichkeiten mit Fusion, Bandscheibenersatz und intradiskaler elektrothermischer Therapie zur Verfügung, ohne dass bisher ein klarer Vorteil dieser aufwändigen Verfahren gegenüber konservativen Maßnahmen nachgewiesen wurde.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Evidenz für viele therapeutische Optionen beim unspezifischen RS nur eingeschränkt ist, was angesichts dieser großen Patientengruppe verwunderlich ist. Wichtig erscheint, dass PatientInnen mit unspezifischen RS nur kurz Bettruhe verordnet werden sollte und sie danach zur Wiederaufnahme von Alltagsaktivitäten motiviert werden.
Analgetika erster Wahl sind NSAR, alternativ oder additiv können Muskelrelaxanzien verordnet werden (cave: Abhängigkeitspoten­zial bei chronischen RS). Niedrig- bis mittelpotente Opioide sollten nur kurzfristig und bei Exazerbationen verordnet werden oder wenn sonstige therapeutische Strategien nicht zum Ziel führen. Retardierte Morphine werden an sich bei der chronischen unspezifischen Lumbago nicht empfohlen11, sind aus unserer Sicht jedoch manchmal unumgänglich. Besondere Bedeutung kommt bei der Verbesserung der Funktionalität bei chronischen Schmerzsyndromen der Physiotherapie in Kombination mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zu.
In letzter Zeit lässt sich ein deutlicher Zuwachs des Anteils an PatientInnen verzeichnen, die mit interventionellen Methoden behandelt werden. Unserer Erfahrung nach lassen sich bei vielen RS-Syndromen mit Infiltrationen gute und langfristige Erfolge erzielen, wobei der Erfolg einer interventionellen Behandlung zum größten Teil von einer korrekten Diagnose und Indikation abhängig ist.

 

1 Werber A, Schiltenwolf M, Chronische Rückenschmerzen. Nervenarzt 2012, 83:243–258.
2 Hestbaek L, Leboeuf-Yde C, Manniche C, Low back pain: what is the long term course! A review of studies of the general populations. Eur Spine 2003;12:149–165.
3 Pfingsten M, Hildebrandt J, Rückenschmerzen. Schmerzpsychotherapie 2011; 431–452, 7. Auflage, Springer Verlag.
4 Bischoff HP, Moll H, Kurz gefasstes Lehrbuch der Manuellen Medizin, 5. Auflage, Spitta-Fachbuchreihe.
5 Morris CE, Low back syndromes – Integrated clinical management. 2006; McGraw-Hill Companies, USA.
6Mumenthaler M, Stöhr M, Müller-Vahl H, Läsion peripherer Nerven und radikuläre Syndrome. 9. Auflage, Georg Thieme Verlag.
7 Hufschmidt A, Lücking CH, Rauer S, Neurologie compact. 5. Auflage, Georg Thieme Verlag.
8 McRae R, Klinisch-orthopädische Untersuchung. 3. Auflage, Gustav Fischer Verlag.
9 Vjesn L, Coccygodynia: etiology, pathogenesis, clinical characteristics, diagnosis and therapy. 2012.
10 Atim A, Ergin A, Bilgic S, Deniz S, Kurt E, Pulsed radiofrequency in the treatment of coccygodynia. Agri 2011; 23 (1):1–6.
11 Baron R, Koppert W, Strumpf M, Willweber-Strumpf A (Hg), Praktische Schmerztherapie. 2. Auflage, Springer Verlag.
12 Berlit P, Klinische Neurologie. 3. Auflage, Springer Verlag.
13 Childers MK, Wilson DJ, Gnatz SM, Conway RR, Sherman AK, Botulinum toxin type A use in piriformis muscle syndrome: a pilot study. Am J Phys Med Rehabil 2002; 81 (10):751–759.
14 Deutsches Ärzteblatt: Muskelschmerz: Mechanismen und klinische Bedeutung. 2008; 105 (12):214–219.