Ethik, Moral und Religion im Spannungsfeld der Technik

Die Dilemmata, was Technik darf, was der Mensch darf und wo ethische und religiöse Standards nötig sind, sind nicht neu, aber in der Programmierproblematik deutlicher als je zuvor, gab sich Moderator und Impulsgeber Martin Voill (bettertogether GmbH) zu Beginn der wohl spannendsten Frage der Zukunftsenquete „moreTECH – moreTOUCH“ überzeugt: „Darf Religion ein Mitspracherecht haben, wenn es darum geht, automatisierte oder durch künstliche Intelligenz unterstützte Entscheidungen für einzelne Patienten zu treffen? Oder geht es darum, einen globalen, kulturübergreifenden Sozial- und Ethikstandard zu definieren?“, fragte Voill eine Diskussionsrunde mit Vertretern der Weltreligionen, die allesamt auch mit Patienten arbeiten oder in der Seelsorge in Gesundheitseinrichtungen tätig sind. Die Fragen, die in der Folge diskutiert wurden, waren zentrale Themen, die sich im Zusammenhang mit Digitalisierung und Gentechnik stellen: Welche weltanschaulichen Auffassungen und Menschenbilder stehen hinter den ethischen Regeln, die einprogrammiert werden? Wer soll sich für welche ethische Variante entscheiden? Welche Rolle spielt dabei eine religiös begründete Moral?
Voill warf aber auch konkrete Fragen auf, die sich für religiöse oder auch nicht religiöse Menschen stellen, etwa jene der Unterschiede in der Beurteilung sittlichen Handelns in den Religionen: „Sollte die Programmierung, vorbehaltlich der Einhaltung geltender Gesetze, je nach Geltungsbereich der Religion abweichen? Für Zeugen Jehovas: Handlungsempfehlung keine Bluttransfusion, und beim Katholiken: keine maschinell gesteuerte aktive Sterbehilfe?“ Voill sieht aber auch noch andere Herausforderungen, etwa ob ein Pflegeroboter weitgehend Nächstenliebe ersetzen kann.

Die Weltreligionen im Diskurs

Für den Buddhisten und praktischen Arzt in Wien Dr. Otto Pichlhöfer gelten vor allem das Individuum und seine Selbstbestimmungsmöglichkeit als zentraler Bezugspunkt in all diesen Fragen. „Wo werden künstliche Extensionen des Körpers geschaffen und ist das eine Ausdehnung der eigenen Individualität? Bei Robotik ist es etwa die Frage, inwieweit das Individuum, das betroffen ist, berücksichtigt wird.“
Die Frage, ob Religionsvertreter bei Programmierungen dabei sein sollen oder nicht, ist nach Ansicht von Mag. Zeynep Elibol von der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) zu hinterfragen. „Die Dualität von Entweder-oder funktioniert nicht bei ethischen Fragen und Menschen“, sagte sie und betonte, dass es darum gehe, übergeordnete Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren. In der Tradition des Islam, „die Gelehrte aus Quellen herausgearbeitet haben“, sei das Leben zu erhalten, die Vernunft, die Fortpflanzung und dann die Religion und die Religionsfreiheit. Elibol: „Der Mensch ist Sachwalter auf der Erde. Er darf das, was an Ressourcen zur Verfügung steht, für die Menschen verwenden. KI, sofern sie dem Menschen nutzt, würden Muslime deshalb nicht ablehnen. Der Moment, wo Menschen der KI dienen und KI die Menschen beherrscht, ist die Grenze zu dem, was sich der Islam nicht wünschen würde.“
Der Glaube sollte sich nicht unbedingt in Endgültigkeiten verlieren, sagte Pfarrer Mag. Arno Preis von der Evangelischen Klinischen Seelsorge im AKH Wien. Es gehe hier auch um Grundfragen des Lebens, erklärte er: „Ein ethischer Diskurs muss zwischen allen stattfinden. Religiosität verpflichtet mich auch zum Dialog mit allen Gruppierungen und zur Freiheit des Menschen. Dazu verpflichtet mich schon die Aufklärung.“ Die Digitalisierung habe aber eine revolutionäre Kraft und biete viele Möglichkeiten und Chancen. „Sie ist auch nicht mehr aufhaltbar. Das ist Teil von menschlicher Kreativität und menschlichem Tun“, zeigte sich Preis überzeugt.
Ähnlich argumentierte MMag. Klaus Rieger, Leiter der Krankenhausseelsorge und des Wertemanagements im Orthopädischen Spital Speising in Wien – das einem Ordensträger gehört. „Es bereitet mir keine Sorge, dass KI Anhaltspunkte und Material liefert zur medizinischen Entscheidungsfindung und Diagnostik. Hier wird KI künftig sicher stark eingesetzt werden.“ Aber dort, wo es schwierig wird und man keine Regelprozesse hat, werde es einen noch viel stärkeren ethischen Diskurs brauchen: „In den eigentlichen Fragen, was wichtig ist im Leben und was Menschen heilig ist, kann KI nicht helfen. Hier ist der Dialog mit dem Menschen wichtig.“ Das sieht auch Preis so: „Wichtig ist das Zuhören in der Seelsorge. Patienten wissen, dass sie medizinisch gut aufgehoben sind. Was ihnen fehlt, ist die Wahrnehmung ihrer ganzen Person.“
Bleibt die alles entscheidende Frage nach dem Leben und Überleben. Voill: „Darf die Überlebenswahrscheinlichkeit einfließen? Welche anderen Kriterien sollen gelten? Und wer definiert sie?“ Für Elibol fiel die Antwort klar aus: „Alles, was im medizinischen Bereich geschieht, sollte fokussiert sein auf die Lebenserhaltung.“ Sie mache sich keine Sorgen, wenn Menschen in Ethikkommission sitzen und Entscheidungen treffen. „Wenn dort aber Roboter sitzen, mache ich mir schon Sorgen. KI kann den Menschen mit seiner Emotionalität und Menschlichkeit nicht ersetzen. Schwierig wird es, wenn man glaubt, dass das doch geht.“ Wie würde es sich auswirken auf Patienten, wenn die Pflege emotional reagiert, weil sie erschöpft ist, oder wenn ein Roboter, der nie müde ist, das auf einmal ist? „Wir wissen nicht, wie wir uns als Menschen mit allen diesen Technologien weiter entwickeln werden. Auch das Handy beispielsweise verändert uns.“

Von der Illusion der Präzision

Für Preis geht es letztlich um die Frage, „wo wir bereit sind, Positionen zu beziehen“. Es braucht unsere Fähigkeit, zu werten und zu beurteilen, und damit einen Rahmen, Grenzen zu setzen, ob wir alles, was möglich ist und scheint, auch wollen. „Hat die Digitalisierung und die damit verbundene Enthemmung die Verführbarkeit potenziert? Der Mensch ist per se stets von einer tiefen Verführbarkeit gekennzeichnet, die Möglichkeiten, die ihm gegeben sind, auch gegen andere anzuwenden.“ Die digitale Revolution erfordere deshalb die Auseinandersetzung mit all diesen Fragen. Und deshalb brauche es auch Diskussion zwischen allen Gruppierungen.
Für Rieger wirft die technologische Entwicklung auch die Frage auf, ob Krankheit komplett messbar ist. „Alle bemühen sich um Präzision, erreichen sie aber nicht. Das Leben im Griff zu haben, ist nicht endgültig möglich. Hier ist immer Platz für die Fragen nach dem Sinn des Lebens und dem Göttlichen.“
Ähnlich argumentierten abschließend auch Pichlhöfer und Preis: „Die Idee, dass wir Krankheiten vorbestimmen können, ist eine Illusion. Der große Bereich des menschlichen und körperlichen Leidens ist ganz schwer vorherzusagen“, sagte Pichlhöfer. Mit dieser Situation umzugehen, sei das zentrale und wichtige Spannungsfeld, betonte er. Und Preis ergänzte: „Seit Jahrtausenden schlagen wir uns mit der Frage herum, ob wir eine berechenbare Welt haben.“ Das sei für ihn aber keine vorrangige Frage, sondern man müsse sich auch mit sozialen Themen beschäftigen und mit der Frage, ob es Menschen gibt, die durch das System fallen. Digitalisierung bedeute oft Verdichtung und mehr Flexibilität und stelle so das System der sozialen Sicherung infrage. Einer der Fehler bestehe aber darin, dass Menschen denken, sie seien Gott. „Menschen sind mit großartigen Gaben und Fähigkeiten ausgestattet, sie sind zum Guten und zur Liebe fähig. Aber Menschen sind auch fehlbar und sie sind verführbar. Und weil Menschen fehlbar sind, sind sie auch darauf angewiesen, Fehler korrigieren zu können“, so Preis abschließend. Zwischen Gott und Mensch zu unterscheiden, sei eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Menschen innerhalb der Grenzen ihrer Verfügungsgewalt verantwortlich handeln. Nachsatz: „Digitalisierung wird gut, wenn wir nicht Götter werden, sondern Menschen bleiben.“

 

Diskussionsrunde mit Zeynep Elibol, Arno Preis, Otto Pichlhöfer und Klaus Rieger. Moderation: Martin Voill (ganz links).

 

Quelle: Podiumsdiskussion „Religion und Krankheit im Zeitalter der digitalisierten Medizin“. Zukunftsenquete healthcare 2030; Wien, am 13. 11. 2019