„Sie sehen hier den letzten Dermatologen …“

Wir erleben spannende Zeiten, die laufend neue Möglichkeiten und Tools bringen“, brachte die Abteilungsvorständin der Abteilung für Neurologie am Wiener Krankenhaus Rudolfstiftung Univ.-Doz. Dr. Elisabeth Fertl die Diskussion um den Einfluss von neuen Technologien auf den Punkt. Nachdenklicher Nachsatz, den alle Mitdiskutanten unterstützten: „Es wird alles viel schneller und die Informationsdichte nimmt zu – vor allem in der wissenschaftlichen Forschung –, in der Patientenbetreuung aber noch weniger.“ Unter der Diskussionsleitung von MedMedia-Geschäftsführerin Mag. Gabriele Jerlich war sich die Diskussionsrunde auch einig, dass noch nicht alles Gold ist, was glänzt.

Wo die Potenziale liegen

Im täglichen Betrieb im Krankenhaus spüre man den Einfluss der neuen Technologien derzeit noch sehr wenig, sagte der Onkologe Univ.-Prof. Dr. Matthias Preusser, Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie der Universitätsklinik für Innere Medizin I und Koordinator der Central Nervous System Tumor Unit des Comprehensive Cancer Center der MedUni Wien (CCC-CNS) und des AKH Wien. „Wir haben mit viel Mühe die papierlose Ambulanz umgesetzt – und das in einer Zeit, wo wir am Handy nachschauen können, wann das nächste Taxi kommt. Man spürt also noch einen technologischen Gap“, so Preusser. In der Forschung und in der Onkologie brächten neue Technologien aber bereits viel, weil man etwa sehen könne, wie Patienten auf Therapien ansprechen.
Durchaus weitreichender erlebt Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Weninger, Leiter der Universitätsklinik für Dermatologie am AKH Wien, die Entwicklung. „Sie sehen hier den letzten Dermatologen sitzen“, formulierte er überspitzt. In der Dermatologie sei ähnlich wie in der Radiologie durch neue Technologien bereits viel passiert. „Das spielt vor allem im Bereich der Hautvorsorge und bei der Erkennung von Melanomen eine Rolle. Wir machen Bilder und vergleichen die Entwicklung über die Zeit. In Zukunft wird das über künstliche Intelligenz machbar sein. Künftig wird die Maschine neben mir sitzen und meine Diagnose bestätigen“, schmunzelte er. Das größte Potenzial sieht Weninger im Bereich der Medikation – etwa im Hinblick auf Mehrfachverschreibungen, wo der IT-Einsatz in der Praxis enorm hilfreich sein könne.
Ähnlich argumentierte auch die Gendermedizinerin Univ.-Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel der Universitätsklinik für Innere Medizin III in Wien: „Bei Diabetes helfen mir Daten enorm: Wie stelle ich wen ein? Wie oft sind Blutzuckerwerte über oder unter dem Zielbereich? Wenn wir rascher erkennen können, wer welcher Subtyp ist und wer früh von welchen Medikamenten profitieren kann, bringt das enorme Fortschritte.“ Man brauche künftig aber auch Experten, die mit diesen Datenmengen umgehen können, merkte sie kritisch an. „Und es hängt auch davon ab, wie gut die Daten sind, die hereinkommen.“ Das gelte auch für die Gendermedizin – auch hier sei ein großer Datensatz hilfreich.

Daten, Daten, Daten

Das Thema Datenqualität ist für alle Forscher ein wichtiger Aspekt. „Das Vokabular erweitert sich. Der Computer wird den Radiologen nicht ersetzen, gibt uns aber mehr Möglichkeiten. Dadurch wird sich auch das Bewusstsein verbreitern“, zeigte sich Assoc. Prof. Dipl.-Ing. Dr. Georg Langs, Leiter des Computational Imaging Research Lab (CIR) der Universitätsklinik für Radiologie und Nuklearmedizin an der MedUni Wien, überzeugt. Ähnlich argumentierte Fertl: „Bei MS ist der direkte Bildvergleich eines MR des Gehirns eine Unterstützung und damit sicherlich extrem hilfreich. Um das aber sinnvoll einsetzen zu können, bedarf es auch enormer Datenmengen. Laufende Messungen und Aufzeichnungen sind für die Therapie sicherlich hilfreich.“
In vielen Bereichen der Neurologie könnten Algorithmen helfen. Warnend gab sich hier Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Fasching, Vorstand der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie mit Ambulanz am Wiener Wilhelminenspital: „Es wird immer undurchsichtiger, wie Algorithmen funktionieren. Die Frage ist, wie diese Systeme programmiert werden. Technologische Entwicklungen sind nicht nur getrieben von Big Data, sondern von Big Business.“ Man müsse sich überlegen, was neue Technologien bringen und wo man überhaupt hinwill. Umgekehrt werde man künftig aber sicher auch Datenschutzbestimmungen überdenken müssen. „Es ist skurril, wenn ich für die Forschung Daten erhebe, diese aber in ELGA dann ausblende und nicht im Alltag nutzen kann.“
Man könne nur jene Daten auswerten, die man eingebe, merkte dazu Kautzky-Willer an: „Das bringt derzeit aber eher mehr Bürokratie. Für die Administration bräuchte man Roboter. Wenn etwas einfacher ist, wird es auch gemacht.“ Es gebe bei Diabetes viele Fortschritte, die nicht wegzudenken seien, wie etwa Glukosesensoren. „Diese Geräte messen die ganze Zeit und man kann mit einem Scan bzw. über eine App die Daten auswerten. Hier ist der Weg zum künstlichen Pankreas mit Insulinpumpen bei Typ-1-Diabetes nicht mehr weit.“ Nachsatz: Das Screening, die Schulung und die Einstellung könne man im niedergelassenen/ambulanten Bereich abdecken und die Kontrollen mithilfe von Telemedizin – es werde aber nie ohne direkten Arztkontakt zwischendurch gehen.

Einsatzbereiche neuer Technologien

Und wo gibt es künftig hilfreiche Einsatzbereiche neuer Technologien? Langs: „Eine Herausforderung ist sicherlich die Auswertung von Patientengruppen, wo die Technik helfen wird.“ Preusser sieht Einsatzbereiche im molekularen Tumorboard: „Wo viele Analysen pro Patient zusammenkommen, die ausgewertet und extrahiert werden müssen, kann und wird man digitale Möglichkeiten für den klinischen Alltag nutzbar machen.“ Hilfe sieht Weninger in der Diagnostik, „wo etwa niedergelassene Ärzte Bilder machen und dann ein Expertenteam beiziehen“. Auch hier gelte aber noch das hemmende Thema Datenschutz, der verhindere, „dass wir das dürfen“. Man müsse in jedem Fall sicherstellen, dass es keinen Missbrauch gibt, betonte Fasching auch im Hinblick auf die in Deutschland kommende und in Österreich zumindest unter der Vorgängerregierung gestoppte Nutzung von Patientendaten für die Forschung.

Den Patienten in den Fokus rücken – nicht den Bildschirm

Einig waren sich die Experten letztlich darüber, dass der Arztberuf auch in Zukunft bedeutsam sein wird. Fertl: „Wir müssen immer sicherstellen, dass der Arztberuf Wissenschaft und Kunst ist“, und dazu müsse man Zeit in die Ausbildung und zum Patienten bringen. „Der Arztberuf wird immer ganz, ganz wichtig sein. Ohne direkte Beziehung wird es nicht gehen. Der Arzt ist Hilfe und Unterstützung – etwa auch bei seltenen Erkrankungen und wenn es um die Kenntnis des sozialen Umfelds geht“, betonte Fasching. Dafür müssten Ärzte aber auch stärker nicht nur Nutzer fertiger Tools sein, sondern Mitentwickler von Therapien, merkte Langs an und Preusser riet den Ärzten, künftig mehr hinter dem Computer hervorzukommen: „Die Gefahr ist, dass der Bildschirm in den Fokus rückt und die Interaktion mit dem Patient stört. Die Arzt-Patienten-Kommunikation ist extrem wichtig und man muss hier eine Balance finden.“
Versöhnlicher Ausblick von Weninger: „In 20 Jahren wird es selbstverständlich sein, dass KI für alle Lebensbereiche verfügbar ist und diese ergänzt. Aber sie wird komplementär sein und Ärzte nicht ersetzen.“

 

Diskussionsrunde mit Elisabeth Fertl, Peter Fasching, Alexandra Kautzky-Willer, Georg Langs, Matthias Preusser und Wolfgang Weninger. Moderation: Gabriele Jerlich (ganz links).

 

 

Quelle: Podiumsdiskussion „Einfluss von moreTECH auf Medizin & Wissenschaft“. Zukunftsenquete healthcare 2030; Wien, am 13. 11. 2019