Remote-Arbeiten in der Forschung

PHARMAustria: Welche Auswirkungen hat die COVID-19-Pandemie auf die medizinische Forschung bzw. auf klinische Studien?

Priv.-Doz. Dr. Ghazaleh Gouya Lechner: Im Bereich der klinischen Forschung belegen viele Daten, dass sicherlich 80% der Nicht-COVID-19-klinischen Studien durch die Pandemiesituation beeinflusst wurden – und zwar negativ, sowohl hinsichtlich Finanzierung als auch Patientenrekrutierung. So ist zum Beispiel bei manchen Studien die Rekrutierung von 30 Patienten pro Monat auf 5 zurückgegangen, in einigen Monaten sogar auf null. Nicht nur konnten weniger Teilnehmer für die Studien gewonnen werden, auch die Studienzentren konnten viele Patienten gar nicht aufnehmen, weil sie entweder zu wenig Personal hatten oder die Restriktionen (z.B. Ausgangssperren) dies unmöglich machten. Dadurch haben sich viele Studien und dadurch auch Produktentwicklungen verzögert. Dabei möchte ich betonen, dass das Engagement der Ärzte in den Zentren und auch der Patienten sehr groß war. Man hat versucht, alle möglichen Wege auszuloten, um die Studien normal weiterzuführen, aber dies war teilweise aufgrund der Rahmenbedingungen einfach nicht möglich. Vonseiten der Behörden wurde diesbezüglich bereits bekannt gegeben, dass man diese Zeiten, in denen Ausgangsbeschränkungen und andere Restriktionen herrschten bzw. noch immer herrschen, als sogenannte Confoun­ders, also Störfaktoren, in die statistischen Analysen hineinnehmen soll. Den großen Schaden, der durch die Pandemiesituation im Bereich klinische Studien entstanden ist, werden wir aber dadurch nicht wirklich ausgleichen können.

PHARMAustria: Wie könnte man diese negativen Einflüsse ausbalancieren?

Durch die nun zur Verfügung stehenden Schnelltests hat sich die Situation bereits etwas entspannt. Mit intensiven Testungen auf SARS-CoV-2 kann man die Fortführung der Studien besser gewährleisten. Daher haben wir auch von den Sponsoren eingefordert, dass sie regelmäßige Testungen aller Beteiligten in ihre Studien hineinnehmen. Auch Remote-Möglichkeiten sollten, wo immer es möglich ist, genutzt werden. Das bedeutet beispielsweise, dass verstärkt dezentrales Monitoring der Daten stattfindet und zudem Telemonitoring der Patienten betrieben wird. So wurde zum ­Beispiel bei der AstraZeneca-Impfstudie ein sogenanntes Device eingesetzt. Dieser Biosensor, den die Patienten nach der Impfung mitbekommen haben, hat im Studienverlauf Herzrhythmus, Körpertemperatur und Atemfrequenz ständig überwacht. Somit mussten die Patienten nicht zu Terminen in die Klinik kommen, sondern ihre Werte wurden in ihrer Alltagssituation kontrolliert und bei gewissen Parametern wurde reagiert. Hier können wir in Zukunft noch auf viele kreative Lösungen hoffen und sollten uns daher bei jedem Studiendesign fragen, was wir remote überprüfen bzw. dezentralisiert durchführen können. So wird unnötiger Aufwand am Zentrum selbst vermieden, was auch für viele Patienten eine Erleichterung darstellt, weil sie sich Wegzeit ersparen.

PHARMAustria: Was hat sich in der medizinischen Forschung in den letzten Jahren verändert, z.B. durch zunehmende Digitalisierung?

Wir waren ja bereits vor der Pandemie in der klinischen Forschung auf dem Weg zur Digitalisierung, aber sehr langsam. Elektronische Case Record Forms sowie elektronische Trial Master Files sind bereits seit einigen Jahren Routine und ersparen die mühsame Datenerhebung und Dokumentenablage auf Papier. Doch nun sind wir noch einen Schritt weiter gegangen und es werden im Rahmen von klinischen Studien beispielweise die Visiten zwischen Arzt und Patient über Video abgehalten. Das hat in den letzten Monaten sehr gut funktioniert, auch in der Altersgruppe der 60- bis 80-Jährigen. Solche ärztlichen Gespräche können sicher auch in Zukunft remote durchgeführt werden, lediglich physische Untersuchungen erfordern immer noch die Anwesenheit des Patienten in der Klinik.
Eine weitere Neuerung ist das sogenannte Electronic Consent. Das sind Patientenaufklärungen, die elektronisch per Mail zugestellt werden und dann nicht ausgedruckt, unterschrieben und gescannt werden müssen, um anschließend per Mail zurückgesendet zu werden, sondern bei denen die Patienten elektronisch ihr Einverständnis abgeben können. Dies wird schon von vielen Unternehmen praktiziert und von den Behörden auch unterstützt. Hier gibt es bereits regulatorische Auflagen, damit Datenschutz sowie Verifizierung der Unterschrift sichergestellt sind.
Auch das dezentrale Monitoring der Daten über die Programmierung von Outlier zur Überprüfung der Plausibilität, um On-site-Besuche der Monitore zu reduzieren (die Monitore müssen persönlich vor Ort am Studienzentrum aufgesucht werden, um eine Verifikation der Studiendaten mit den Quelldaten durchzuführen), sowie Patient-reported Outcomes über eine App auf dem Smartphone haben ebenfalls Eingang in die Routine der klinischen Prüfungen erhalten.

PHARMAustria: Wird Artificial Intelligence in Zukunft eine größere Rolle bei klinischen Studien spielen?

Das kann ich mir gut vorstellen, vor allem im Bereich Datenanalyse. Sagen wir beispielsweise, in einer Studie werden kardiovaskuläre Patienten überwacht und bei den Werten eines Teilnehmers zeigt sich eine Auffälligkeit. Dann wird die Artificial Intelligence (AI) aufmerksam und erstattet Meldung, wodurch die Ärzte entsprechend reagieren können. Wenn man AI für Datenmonitoring und das Detektieren von Safety-Signalen einsetzt, kann dies sicher ­einen großen Beitrag leisten. Zudem ist AI bereits bei vielen medizinischen Diagnoseinstrumenten, z.B. der Diagnose mittels Röntgenbildern oder histologischen Bildern, in der klinischen Validierung.

PHARMAustria: Welche Maßnahmen braucht es aus Ihrer Sicht, um Österreich als Forschungsstandort zu stärken?

Ich glaube, dass Österreich ein großartiger Forschungsstandort ist. Es ist zwar ein kleines Land, aber wir haben eine unglaublich hohe Dichte an Gesundheitszentren sowie an universitären und außeruniversitären Einrichtungen, vor allem in der biomedizinischen Forschung. Ein besonderer Vorteil von Österreich sind die sehr kurzen Kommunikationswege hierzulande. Trotz all dieser Pluspunkte braucht es aber Maßnahmen, um den Forschungsstandort Österreich weiter zu stärken. Meiner Meinung nach nutzen wir unseren Wettbewerbsvorteil noch nicht ausreichend.
Im Durchschnitt werden in Österreich pro Jahr 300 klinische Studien angemeldet. Das hat sich über die letzten zehn Jahre kaum verändert bzw. es gab sogar einen leichten Abwärtstrend, der sich allerdings in letzter Zeit ein wenig erholt hat. Dieser Abwärtstrend zeigt aber, dass die operative Umsetzung an den Studienzentren nicht ausreichend ausgeschöpft wird. Die großen Zentren in Wien, Innsbruck, Salzburg, Graz, Klagenfurt und Linz haben zwar in den letzten Jahren mit dem Ausbau von Clinical Research Centers begonnen, aber dafür braucht es natürlich auch die Unterstützung der Träger, der Zahler. Und diese beurteilen manchmal die Wichtigkeit der klinischen Forschung nicht hoch genug. Dabei wird sich eine Investition in Forschungseinrichtungen bzw. in Studienzentren definitiv auszahlen! Letztendlich würde das nicht nur die Forschung voranbringen, sondern auch den Patienten den Zugang zum neuesten Stand der Therapien ermöglichen. Hier würde ich mir einen proaktiveren Einsatz der Zahler und der Träger zur Unterstützung der Gesundheitseinrichtungen als Studienzentren wünschen.

Vielen Dank für das Gespräch!