Smart-Data-Segmentierung: Die goldene Mitte zwischen Hyperpersonalisierung und „Mass-Marketing“

Digitalisierung bedeutet Humanisierung

Die eigentliche Revolution in der digitalen Transformation liegt nicht darin, dass sich die Kommunikationskanäle verändert haben oder mehr Daten gesammelt und analysiert werden als je zuvor, sondern darin, dass ein Machtwechsel am Markt und in der Kommunikation stattgefunden hat. Marken sind nicht mehr die alleinigen Absender von Botschaften und Kunden nicht mehr bloß Empfänger dieser (Piccinini et al. 2015; Cochoy et al. 2017). Durch die Digitalisierung und die damit entstehenden neuen Möglichkeiten der Kommunikation und des konsumentenseitigen Feedbacks kann die Stimme der Kunden heute lauter sein als jene der Marke. In der Praxis hat dies zwei zentrale Auswirkungen. Für Unternehmen bedeutet das: Zuhören! Für Kunden bedeutet das: Umsorgt werden.
Moderne Kunden stellen heute andere Ansprüche als noch vor zehn Jahren. Konsumenten wollen immer individueller, immer schneller, immer besser angesprochen werden. Und in unseren übersättigten Märkten gewinnen gerade jene Marken, die es schaffen, ihren Kunden möglichst maßgeschneidert zu begegnen. Nicht umsonst kam DELL-CIO Jerry Gregoire zu seinem bekannten Ausspruch: „The customer experience is the next competitive battleground.“
Nicht nur für die meisten marketmind-Kunden – häufig große Player mit relevanten Marktanteilen – besteht die große Herausforderung also darin, die goldene Mitte im Spannungsfeld zwischen Massenmarketing und personalisierter Ansprache zu finden. Mehrere Tausend Kunden individuell anzusprechen kann nur automatisiert funktionieren. Jedoch müssen in diesem automatisierten Prozess die individuellen Kundenansprüche mitberücksichtigt werden. Die Kunst dabei besteht da­rin, den Kunden nicht zu einer anonymen Nummer zu machen.
Denn wo wäre dann die große Verbesserung zum alten Massenmarketing? Lösungsansätze – unter Schlagworten wie ­Retargeting (siehe z.B. Lambrecht & Tucker 2013) oder Marketing Automation (siehe z.B. Plehwe 2002) – sind vorhanden, doch lange nicht ausgereift. Auftretende Problemfelder, die mit der Nutzung dieser ­Lösungsansätze zusammenhängen, sind allgemein bekannt: Jeder von uns kennt die Matratze, die uns wochenlang durch das Internet verfolgt, obwohl die Kaufentscheidung längst getroffen, das Produkt längst bestellt, bezahlt und geliefert ist und einen Lebenszyklus von etwa zehn Jahren hat. Oder die Hotels, die uns seit der Südamerikareise letzten Sommer noch immer verfolgen, obwohl wir als nächstes Ziel Südost­asien im Sinn haben.
Diese zwei alltäglichen Beispiele spiegeln das Grundproblem der genannten Lösungsan­sätze wider: All diese Algorithmen sind letztlich eben genau das – Algorithmen. Und ­damit per definitionem „eine systematische, logische Regel oder Vorgehensweise, die zur Lösung eines vorliegenden Problems führt“ (Assen 2016). Sie können eben nur mit den Daten arbeiten, die vorhanden sind. Was fehlt, sind die dahinterliegenden Bedürfnisse und Motive der Kunden. Kurz: das WARUM. Nur wenn wir ­verstehen, warum unsere Kunden sich so verhalten, wie sie es tun, können wir auch proaktiv handeln und nicht nur reagieren, nachdem der Kunde bereits gehandelt hat.

Alter Wein in neuen Schläuchen?

Ein bisschen sieht es so aus. Denn der Kunde sollte schon immer im Mittelpunkt unserer (Marketing-)Überlegungen stehen und nicht erst, seitdem dieser spezielle Bereich des Marketings unter dem Schlagwort „­Customer Centricity“ geführt wird. Auch die Grundidee „Segmentierung“ besteht nicht erst seit gestern, sondern zählt seit vielen Jahren zum maßgeblichen Repertoire des Marketings. Weinstein (2004) erwähnte ­beispielsweise schon vor über zehn Jahren folgende Zwecke von Segmentierungen:

  • Gestaltung bzw. Entwicklung von ­Pro­dukten und Services entsprechend den ­Kundenbedürfnissen
  • Festlegung effizienter und effektiver ­Kommunikationsstrategien
  • Ermittlung der Marktstellung des Unternehmens bzw. Bewertung der Position ­gegenüber den Mitbewerbern
  • Gewinn von Erkenntnissen für die strategische Marktbearbeitung sowie Markenstrategie

Die bedingungslose Kundenorientierung, die sich vor allem an der Verhaltensbeobachtung der Kunden festmachen lässt – vom aufkeimenden Interesse für ein Produkt oder eine Leistung bis in die Nachkaufphase –, war noch nie stärker als heute. Die überwiegende Zahl der im Zuge der Digitalisierung entstandenen Unternehmen will die Kunden mit vollkommen neuen Möglichkeiten entlang ihrer „Reise“ überraschen – oder wie es Amazon-Gründer Jeff Bezos formuliert: „If you’re competitor-focused, you have to wait until there is a competitor ­doing something. Being customer-focused allows you to be more pioneering.“

Maßschneidern

Dem unüberhörbaren Wunsch nach tief greifendem Verständnis der Kundenbedürfnisse trägt ein unternehmensspezifisches Vorgehen besser Rechnung als eine allgemeine, branchenübergreifende Lösung. Die Überlegenheit entsteht durch die höhere Relevanz der Ergebnisse für den Marketingalltag. Entwickler lernen bei einer Smart-Data-Segmentierung beispielsweise unmittelbar von den Kundenbedürfnissen, weil das Verhalten ein wesentliches Segment bildendes Kriterium ist.
Ein maßgeschneiderter Segmentierungsansatz hat den großen Vorteil, dass der Marketingmix (Produktgestaltung, Kommunikation, Distribution und Preispolitik) insgesamt auf die Bedürfnisse des jeweiligen Unternehmens abgestimmt ist und somit die identifizierten Segmente eine wertvolle strategische Bedeutung erlangen (Schweiger & Schrattenecker 2017).
Bei der Smart-Data-Segmentierung von marketmind werden Befragungsergebnisse mit Informationen aus dem Data Warehouse (firmeninterne Kundendatenbank) verknüpft und mit Informationen aus dem Internet angereichert. Dadurch können die Segmente sowohl in der Eigenkundenbasis als auch am Gesamtmarkt identifiziert werden. Dies gestattet, die Personas mit realen Verhaltensdaten der Kunden anzureichern und mit Realtime-Segmenten zu arbeiten. Somit kann an vielfältigen Kontaktpunkten ein wirksamer Dialog mit dem Kunden etabliert werden (im Web, im Shop, beim Bestell- und Serviceprozess, im Dialogmarketing), um so eine langfristig stabile Kundenbeziehung aufzubauen und diese durch abgestimmte und kundenindividuelle Marketing-, Sales- und Servicekonzepte mithilfe moderner Informationslogistik- und Kommunikationstechnologien zu pflegen.

Abbildung 1 zeigt die strategische Bedeutung einer Smart-Data-Segmentierung anhand der Ergebnisse für eine europäische Fluglinie. Das in Rot dargestellte Segment stellt am Gesamtmarkt 12%, innerhalb der eigenen Kundenbasis aber 20% der Kunden. Insgesamt erzielt die Fluglinie mit diesem Segment sogar rund 30% des Umsatzes und fast die Hälfte des Ertrages. Das in Grün dargestellte Segment ist am Gesamtmarkt gleich häufig vertreten, zählt aber in weit geringerem Ausmaß zu den Kunden der Airline (10%) und auch Umsatz bzw. Ertrag sind weitaus geringer. Diese Daten bilden wesentliche Inputs für den Targeting-Prozess. Die prinzipielle Herangehensweise bei der Smart-Data-Segmentierung startet mit der Betrachtung des Gesamtmarktes der jeweiligen Branche (gesamter Warenkorb, Nutzung, Bedürfnisse etc.). Im Rahmen einer Primärmarktforschungsstudie werden für den Markt repräsentative Samples wie auch Samples auf Kundenbasis befragt. Aus diesen Daten werden jene exkludiert, welche keine gute Brücke in das Data Warehouse aufweisen. Danach werden Segmente mittels multivariater Verfahren gebildet und überprüft. Dieser iterative Prozess wird so lange wiederholt, bis die Ergebnisse genügend Varianz sowie Übereinstimmung (Match im Data Warehouse) aufweisen.

 

Abb. 1: Strategische Markenbetrachtung (Quelle: eigene Darstellung)

Zur Beschreibung der Segmente werden sogenannte Booklets verwendet, in denen typische Konsumenten visualisiert und auf Basis ihres echten Verhaltens und ihrer abgegebenen Meinung bzw. Einstellung charakterisiert werden (vgl. Abb. 3 am Beispiel der marketmind-Se
gmentierung für Swisscom).

 

Abb. 3: Segmentlandschaft Swisscom, Smart-Data-Segmentierung (Quelle: eigene Darstellung)

Abbildung 3 zeigt die Übersicht über alle Segmente, nämlich „traditional“, „couch potato“, „digital spender“, „message junkie“ usw. In Abbildung 2 ist ein Beispiel für ein Booklet mit einer typischen „message junkie“-Konsumentin abgebildet. Für diese Konsumentin wäre es besonders schrecklich, ihr Handy zu verlieren. Dagegen wünscht sich ein typischer „couch potato“: „Am liebsten hätte ich so einen Apparat, bei dem ich nur auf einen Knopf drücken muss und das Ding weiß, was ich will …“

 

Abb. 2: Lebensnahe Booklets (Quelle: eigene Darstellung)

 

Nachteile von Smart-Data-Segmentierung

Eine verhaltensbezogene Smart-Data-Segmentierung hat aber nicht nur Vorteile. Die Nähe am Konsumenten und am Markt ­impliziert eine höhere Segmentdynamik. Kißig (2013) versteht unter diesem Begriff „Veränderungen und Bewegungszustände von Segmenten und Individuen zwischen verschiedenen Zeitpunkten“. Ändert sich bei­spielsweise der Markt durch eine wesentliche Produktinnovation oder durch einen neuen Anbieter, benötigt es auch ein Update der Smart-Data-Segmentierung. Dies ist beispielsweise bei Segmentierungen, die auf dem Milieuansatz beruhen, nicht der Fall. Dynamische Smart-Data-Segmentierungen sind die Grundlage für ein viel differenzierteres Vorgehen bei fast allen Marketingaktivitäten. Dadurch wird die Arbeit für ­Marketers vielfältiger und umfangreicher. Im Kundendialog wollen beispielsweise segmentspezifische Bildwelten und Texte eingesetzt werden. Erst dann steigen die Klickraten und die Conversions.

Produkte können öfters Anpassungen erfahren, Customer Journeys viel differenzierter ausfallen, was neben höherer Effizienz auch höheren Ressourceneinsatz bedingt (Weinstein 2004). Diesem Umstand sollte man sich bewusst sein. Dennoch sind – gerade aufgrund der stark veränderten Kunden­bedürfnisse und -erwartungen – ein tief greifendes Verständnis und ein daraus ­entstehendes unternehmensspezifisches Vorgehen oftmals effizienter und relevanter als eine allgemeine, anonyme und branchenübergreifende Lösung.

Literatur beim Verfasser