NS-Medizinverbrechen neu analysiert

(c) MedUni Wien

In keinem Beruf gab es offenbar mehr Nazis als in der Ärzt:innenschaft, berichtet „The Lancet“. Ein Wiener Medizinhistoriker fordert nun Medizingeschichte im Pflichtcurriculum.

Unter dem Naziregime waren Mediziner:innen stark an der Durchführung des Holocaust und anderer Massenmorde beteiligt. Darauf macht nun zum wiederholten Mal das renommierte Fachjournal „The Lancet“ aufmerksam. Eine Kommission aus 20 internationalen Forscher:innen – darunter Medizinhistoriker Herwig Czech von der MedUni Wien –veröffentlichte darin nun einen umfassenden Report zu nationalsozialistischen Medizinverbrechen. Der Bericht, für den aus über 878 Publikationen zitiert wurde, soll mit Missverständnissen aufräumen und Ärzt:innen als Anstoß zur Reflexion über ethische Grundfragen dienen. Entsprechendes Wissen zu „diesem extremsten Fall der Beteiligung von Medizinerinnen und Medizinern an Menschenrechtsverletzungen“ sei von „universeller Bedeutung“, betonte Czech, einer von drei Hauptautoren der Studie und Co-Chair der Kommission, gegenüber der APA.

Die Forscher:innen weisen in dem Bericht auch darauf hin, dass es im Gesundheitsbereich noch unzureichende Kenntnisse zum Thema NS-Medizin gibt. Nach 1933 wurden unzählige Menschen unter dem Deckmantel radikaler Eugenetik, sogenannter „Rassenhygiene“, zwangssterilisiert und systematisch ermordet. Allein durch die sogenannte Aktion T4, ein Wegbereiter der Mordmethoden in den Vernichtungslagern, verloren hunderttausende behinderte Personen ihr Leben – darunter bekanntlich auch tausende Patient:innen der damaligen Wiener Heil- und Pflegeanstalt „Am Steinhof“. Czech kritisiert in diesem Zusammenhang die „Tatsache, dass die Medizingeschichte und auch dieses spezifische Kapitel in den Lehrplänen in Österreich – im Gegensatz zu Deutschland – kaum verankert ist“.

Umso mehr sieht die Kommission eine Notwendigkeit, Mediziner:innen mit historischen Beispielen auf Situationen moralischer Verfänglichkeit adäquat vorzubereiten – zumal diese nicht erst bei Mord beginnen würden. Allein die NS-Kampagne der Zwangssterilisation habe „eine Unmenge an Personen gebraucht, die damit kollaboriert haben“. Extreme ethische Entscheidungen gibt es auch heute, nicht zuletzt in Krisen- oder Kriegsgebieten. Der Report enthält sogar Vorschläge für Lehreinheiten, darunter nicht nur Negativbeispiele, sondern auch Vorbilder, die sich gegen das Regime auflehnten. Czech setzt sich dafür ein, Medizingeschichte im Pflichtcurriculum der Medizinischen Universität Wien zu verankern. (kagr/APA)

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