Analyse: Medizinhistoriker erwartet tiefgehende Veränderungen durch Corona

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Wie sehr wird die Corona-Krise unsere Gesellschaft, unser Gesundheitswesen und die Wirtschaft verändern? RELATUS sprach dazu mit dem Medizinhistoriker Herwig Czech von der Meduni Wien über die gesellschaftlichen Auswirkungen von Seuchen und Gesundheitskrisen.

Paradoxerweise sei gerade der Siegeszug der modernen Medizin seit dem Zweiten Weltkrieg einer der Gründe, warum die Corona-Krise die Welt nun auch psychologisch so hart trifft, sagt Herwig Czech. Zwar habe es durchaus Warnungen vor der Möglichkeit einer neuen Pandemie gegeben, doch diese sind nicht wirklich ins Bewusstsein gedrungen. Zwar habe die Menschheit bis vor wenigen Jahrzehnten ständig mit tödlichen Infektionskrankheiten wie Cholera, Pest, Pocken, Diphtherie, Fleckfieber, Malaria und anderen gelebt und tue es in manchen Regionen der Welt nach wie vor. „Mit dem Siegeszug von Penicillin und Fortschritten der Medizin ist zumindest in den westlichen Industrieländern dann der Glaube entstanden, dass man das alles besiegen kann. SARS und Co in der jüngeren Vergangenheit sind letztlich glimpflicher ausgegangen als befürchtet, was das Gefühl einer falschen Sicherheit verstärkt hat“, erklärt der Medizinhistoriker. Zudem habe es noch kaum eine Gesellschaft geschafft, im Notfall perfekt auf eine Seuche vorbereitet zu sein.

Gesamthaft betrachtet erwartet Czech durch Corona mit Blick auf die Seuchengeschichte auch weitreichendere Folgen. „Das Virus trifft global gesehen auf unterschiedliche Gesellschaften und Systeme. Es stellt sich also die Frage – wie stabil die jeweilige Gesellschaft ist. Wie stabil ist das politische System? Wie steht die Wirtschaft da? Wie gut ist das Gesundheitswesen? Man sollte nicht nur die schon etwas abgegriffenen Pole Gesundheit versus Wirtschaft betrachten.“ In der Geschichte seien auf solche Krisen häufig Tendenzen zur Abschottung gefolgt. Häufig kam es auch zu politischen Umbrüchen. „Wir werden sicher Länder sehen, wo das politische System ins Wanken gerät“, ist der Experte überzeugt und bringt das Beispiel des Reaktorunfalls in Tschernobyl in den 1980er Jahren, der auch in Österreich zu zeitweisen Ausgangsbeschränkungen geführt hat. Tschernobyl sei vielleicht sogar ein entscheidender Faktor gewesen, der den Glauben in das System der Sowjetunion ausgehöhlt habe, meint er. Tatsächlich hat der ehemalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow zum 20jährigen Jubiläum der Katastrophe in einem Zeitungsartikel für die deutsche „WELT“ geschrieben, dass „die Reaktor-Katastrophe für den Zerfall der Sowjetunion entscheidender war als die Perestroika.“ Gorbatschow: „Es gab die Zeit vor der Katastrophe, und es gibt die völlig andere Zeit, die danach folgte.“ Vertrauen und Glaubwürdigkeit stehen in der Krise auch jetzt für jede Regierung auf dem Spiel, sagt Czech.

Corona kann aber auch neuen Entwicklungen zum Durchbruch verhelfen, ist der Medizinhistoriker mit Blick auf die Geschichte überzeugt. So hätten etwa die Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass in Europa die Wasserversorgung für die Städte und die Hygienemaßnahmen ausgebaut worden seien. Neben der Regionalisierung könnte das auch eine weitergehende Digitalisierung von vielen Lebens- und Arbeitsbereichen sein oder auch Veränderungen, die aufgrund der langfristigen Notwendigkeit des Klimaschutzes auch nach der Krise beibehalten werden. „Die Krise führt derzeit vor allem auch dazu, dass in vielen Bereichen eine Machtkonzentration bei den Regierungen stattfindet, die unter gewöhnlichen Umständen undenkbar wäre“, sagt Czech abschließend. (rüm)