Psychiater warnen: Gesunde leiden unter Corona-Krise zeitverzögert

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„Jetzt kommen auch immer mehr psychisch stabile Menschen ins Trudeln“, warnt der Präsident des Sozialnetzes „pro mente Austria“. COVID-19 bringt mit Zeitverzögerung auch psychisch sonst Gesunde in Probleme.

Nicht nur Wissenschaft und Forschung würden im Hinblick auf COVID-19 als unzuverlässig empfunden, auch die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen führten zu Unsicherheit und psychischen Problemen, warnt der Psychiater Günter Klug, Präsident von pro mente Austria, am Dienstag in einer Aussendung. pro mente Austria ist der Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind. Klug: „Schon vor der nun alles dominierenden Pandemie haben wir uns in Zeiten gewaltiger Veränderungen befunden. In der Wirtschaft wird seit geraumer Zeit zunehmend auf Digitalisierung gesetzt – und die Pandemie hat dies noch verstärkt. Aber niemand weiß genau, wie sich die Arbeitsplätze in einer Wirtschaft 4.0 entwickeln, wie viele Arbeitsplätze in Zukunft überhaupt noch gebraucht werden. Sicher ist nur, dass es ohne stabile Ausbildung, lebenslanges Lernen und enorme inhaltliche, zeitliche und örtliche Flexibilität für den Einzelnen nicht mehr gehen wird.“

Gleichzeitig verändere sich die Gesellschaft. Es komme zu einer immer stärker werdenden Individualisierung, immer mehr Menschen lebten alleine, arbeiten unter Umständen im Home Office und hätten immer weniger „reale“ soziale Kontakte. Dazu komme eine steigende Zahl von Alleinerziehern und das Problem der Versorgung älterer pflegebedürftiger Menschen. Hätte diese Gemengelage bisher vor allem Menschen mit psychischen Problemen außer Tritt geraten lassen, kämen nun auch psychisch und vom Selbstwert her stabile Menschen in Probleme, fürchtet der Psychiater: „Wir beobachten hier zwei Trends: Einerseits führt die Verunsicherung dazu, dass die Menschen sich zurückziehen und den COVID-19-Rückzug zum Teil bewusst, zum Teil unabsichtlich fortsetzen. Oder aber sie kippen in die andere Richtung und leben jetzt nach dem Motto ‚Eh schon egal!‘. Sie vernachlässigten Ausbildung und Job und lebten als gäbe es kein Morgen.“ Das Ergebnis sei ein neues Biedermaier-Verhaltensmuster mit einem deutlichen Anstieg von psychischen Belastungen und chronischem Stress.

Klug forderte mehrere Maßnahmen in diesem Zusammenhang, darunter: Kein Spielen mit Ängsten, um einzelne Interessensgruppen zu bedienen, Beruhigung des Ausbildungssystems und mehr Maßnahmen für Berufsperspektiven für junge Menschen. Hinzu sollte die Vorbeugung, Früherkennung und Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen verbessert werden. Schließlich müsste die Situation in der Betreuung der älteren Generation einen Schwerpunkt der Bemühungen bilden. (red)

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