Analyse: Weder Impfnationalismus noch Bundesländer sind die Lösung

Martin Rümmele ist Chefredakteur von Relatus.

Warum kommt Österreich nicht mit den Impfungen voran? Warum gibt es nicht ausreichend Impfstoff? Und warum gab es Bestellungen nur über die EU und nicht alleine? Eine Analyse der Zusammenhänge.

EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides hat zuletzt die Beschaffung der Corona-Impfstoffe durch die Europäische Union verteidigt und zusätzliche nationale Lieferabsprachen mit Herstellern kritisiert. Diese untergrüben den europäischen Ansatz, erklärte Kyriakides. Umgekehrt hört man fast in allen EU-Ländern Kritik an den Bestellvorgängen durch die EU und die scheinbar langsamere Lieferung von Impfstoff im Vergleich zu den USA, Israel oder Großbritannien. Sie verstehe innenpolitische Zwänge, fügte die Gesundheitskommissarin hinzu. „Aber wir sind gemeinsam stärker und liefern bessere Ergebnisse für unsere Bürger.“ Die EU habe bessere Verträge und Bedingungen erreicht, als es für Einzelstaaten möglich gewesen wäre.

Tatsächlich hat sie damit Recht. Der europäische Weg war aus vielerlei Hinsicht sinnvoll – auch wenn die EU zu Beginn der Pandemie tatsächlich geschlafen hat. Allerdings gab es gerade da zahlreiche Alleingänge von Staaten – erinnern wir uns daran, dass etwa Schutzausrüstung an innereuropäischen Grenzen blockiert worden ist. auch Österreich mußte auf Lieferungen warten, die an der deutschen Grenze gestoppt worden waren. Das zeigt, dass wir Europa nicht nur in Sonntagsreden beschwören dürfen, sondern es gerade jetzt und nach dem Brexit auch leben müssen. Das liegt im Österreichischen Interesse – der Binnenmarkt ist gerade für unsere Wirtschaft wichtig – und auch im Interesse aller. Die Europäische Union und einzelne Mitgliedsländer haben die Impfstoffproduzenten zu einem Zeitpunkt unterstützt, als noch unklar war, wer von ihnen einen wirkungsvollen Impfstoff entwickelt und wer dafür auch eine Zulassung bekommt. Biontech etwa galt vor einem halben Jahr als Außenseiter und hat über die EU bereits Mitte 2020 Hilfen zur Forschung und dem Aufbau einer Produktion erhalten. Ohne diese Hilfen gäbe es jetzt vielleicht noch gar keinen Impfstoff.

Deutschland hat als Standort zudem Biontech auch national gefördert und hätte wohl zuerst Impfstoffe bekommen, wenn es keine europäischen Vereinbarungen gegeben hätte. Große Volkswirtschaften wie Deutschland und Frankreich hätten alleine Verträge abschließen können. Sie sind eine starke Marktmacht und große Pharmakunden. Erinnern wir uns: Im Juni 2020 haben sich Deutschland, Frankreich, Italien und die Niederlande zu einer Impfallianz zusammengeschlossen und mit AstraZeneca einen Rahmenvertrag geschlossen. Österreich und gerade kleine Länder waren nicht dabei und wären so wohl auch nicht rasch beliefert worden. Die Tatsache, dass die Produktionskapazitäten eng sind, hätte es auch bei einem Alleingang der Allianz oder auch von Österreichs gegeben. Hätte Österreich bei einer Solobestellung genug Impfstoff bekommen? Wohl kaum. Also verlangte auch Österreich von der EU einen gemeinsamen Weg.

Es geht aber auch um geopolitische Fragen. Österreich hat ein vitales Interesse an einer starken EU, offenen Wirtschaftsgrenzen und einem europäischen Binnenmarkt. Hätte die EU nicht gemeinsam bestellt, hätte man zudem vielleicht manche ost- und südeuropäischen Länder in die Arme Chinas und Russlands getrieben. Brechen dann nach England weitere EU-Mitglieder weg? „Wollen wir, dass unsere engsten Partner in Krisen nicht nach Brüssel blicken, sondern nach Peking oder Moskau?“, fragt zurecht der deutsche Gesundheitsminister Jens Span (CDU). Hätte man – wie die USA oder Israel – mit Notzulassung impfen sollen, statt auf die Genehmigung der Europäischen Arzneimittelbehörde zu warten? Nein, sagt Spahn, das Vertrauen in einen sicheren Impfstoff und eine ausreichende Prüfung sei wichtig. Die EU hat mehr als genug Impfstoff für die gesamte Bevölkerung bestellt – und zwar bei mehreren Herstellern, um so die Risiken von möglichen Forschungsflopps, Lieferengpässen oder Abhängigkeiten zu reduzieren.

Brasilien erlebt gerade, was ein Alleingang und eine Abhängigkeit von einem Impflieferanten bedeutet: Indien, das in großem Stil vor allem den Impfstoff von AstraZeneca produziert, hat zunächst keinen Impfstoff an Brasilien geliefert. Indien stellt nach eigenen Angaben rund 60 Prozent der Impfstoffe weltweit her. Und Indien begann am Samstag seine eigene Corona-Impfkampagne. Bis Juli sollen dort 300 Millionen Menschen geimpft werden. Der politische Druck ist groß, dass der Impfstoff im eigenen Land bleibt. Wie hätte Österreich wohl in so einem Fall ausgesehen?

Österreich nütze jede Option im Rahmen des EU-Beschaffungsprogrammes rasche zusätzliche Impfdosen zu bekommen, sagte zuletzt Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne). Damit sollen die Lieferungen beschleunigt werden. Insgesamt hat Österreich über die EU ausreichend Impfdosen bestellt. Bleibt die Frage, warum es nicht schneller geht. Natürlich hat die EU zu Beginn der Krise gezögert und die Bürokratie hat die Verhandlungen mit den Herstellern nicht beschleunigt. Hätte man früher bestellt, gäbe es auch zum Start der Impfkampagnen mehr Impfstoff, sagen die Hersteller.

Österreich bremst sich aber auch selbst aus. Dass die Bundesländer für die Organisation zuständig sind, macht wenig Sinn. Sie waren schon beim Contact Tracing, beim Testen und dem Schutz der Pflegeheime überfordert. Man scheute sich, den Behörden vor Ort mehr Personal zu geben, weil man Angst hatte auf künftigen Kosten und den neu eingestellten Personen sitzen zu bleiben. Die Folge: in Oberösterreich lassen sich Gemeindepolitiker im Pflegeheim impfen, weil aufgetaute Impfdosen übrig bleiben; in Vorarlberg werden aus dem gleichen Grund auch die Familienangehörigen von Rettungskräften zur Impfung geholt bevor man auf die Idee kommt, den aufgetauten Impfstoff nach dem Termin für Gesundheitsberufe in Pflegeheime zu bringen; Kärnten zögert mit dem Impfstart mehr als eine Woche und dem steirischen Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer (ÖVP) fällt zuerst nur ein, eine Impfpflicht zu fordern – unwissend, dass das Impfskeptiker beflügelt – und erklärt dann heute bei der Verlängerung des Lockdowns den Grund warum Skilifte offenbleiben, Schulen aber nicht mit: „Das ist halt jetzt so“.

Es braucht also gemeinsame Anstrengungen – sowohl in Europa, also auch in Österreich. Kein Land kann alleine dieses Virus besiegen, es macht vor den Grenzen nicht halt. Weder an Bundesländergrenzen, noch zwischen den EU-Mitgliedsländern. (rüm)

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