Gesundheitsminister will Debatte über Wirkstoffverschreibung

Gesundheitsminister Rudolf Anschober im Gespräch mit RELATUS-Chefredakteur Martin Rümmele. © Oliver Miller-Aichholz

Im Interview warnt Gesundheitsminister Rudolf Anschober vor einem sorglosen Umgang mit der Corona-Gefahr und sorgt sich vor einer zweiten Welle. Aufhorchen lässt er mit dem Wunsch nach einer Debatte darüber, dass Ärzte nur noch Wirkstoffe verordnen und Apotheker die jeweils verfügbaren Medikamente abgeben. Das könnte helfen, Lieferengpässe zu beheben.

Sie haben vergangene Woche im Sozialausschuss des Nationalrates das Thema über Lieferengpässe bei Medikamenten diskutiert. Wie wollen Sie hier gegensteuern? Ich habe gesagt, dass ich, wenn es im Herbst hoffentlich ruhiger wird, mit einer fairen Diskussion beginne, ob die Wirkstoffverschreibung ein möglicher Weg wäre – auch im Hinblick auf die Versorgung mit Medikamenten und Lieferengpässe. Es ist für mich nicht verständlich, dass Österreich eines der letzten Länder in Europa ist, wo es keine solche Lösung gibt. Ich kündige nicht an, dass ich mit dem Kopf durch die Wand will, aber ich möchte eine faire, offene und ideologiefreie Diskussion führen – ohne Vorbehalte und Tabus. Ich bin ein pragmatisch denkender Politiker und werde mir alle Seiten an den Tisch holen, anhören und dann Entscheidungen treffen. Das ist die Art, wie ich Politik mache: zuerst Fachliches aufrollen und die Expertise einholen. Das Ziel ist also eine Diskussion im Herbst. Das soll helfen bei Lieferengpässen aber vielleicht auch Einsparungen bringen.

Aktuell steigen die Infektionszahlen wieder. Kommt die zweite Welle? Es gibt Bilder, die mir schon Sorgen machen. In Österreich haben wir das Virus derzeit weitgehend unter Kontrolle und so soll es bleiben. Mein dringender Appell geht daher an die Bevölkerung, sich durch die wochenlangen guten Zahlen nicht täuschen zu lassen. Wir dürfen das Erreichte nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Das Virus ist immer noch da, es geht nicht auf Sommerurlaub und es ist hochgefährlich. Nur wenn sich alle weiterhin trotz der vermeintlich guten Entwicklung konsequent an die Regeln halten, haben wir die Chance, dass das Virus nicht wieder großflächig zuschlägt. Dass die Pflicht, den Mund-Nasen-Schutz zu tragen teilweise aufgehoben wurde, heißt nicht, dass die Masken ab nun verboten sind. Es macht Sinn, den MNS in Eigenverantwortung weiter zu tragen. In den kommenden Tagen werden in jedem Fall die Clusterbildungen besonders genau kontrolliert.

Was ist hier genau geplant? Screenings hat es schon bei Alters- und Pflegeheimen gegeben. Nun nehmen wir uns Bereiche vor, wo wir wissen, dass es eine geringe Bereitschaft der Betroffenen gibt, 1450 zu kontaktieren, wenn sie den Verdacht haben, infiziert zu sein. Wir müssen mehr testen und unter den Teppich schauen. Die jüngste Antikörper-Studie aus Ischgl, wonach 85 Prozent der positiv Getesteten keine Symptome hatten zeigt die große Falle und zeigt, wie nötig Screenings sind. Wir haben zuletzt auch flächendeckende Tests von Leiharbeitern und Asylbewerbern angekündigt. Es geht um Menschen in prekären Arbeitssituationen, mit unklaren Aufenthaltssituationen oder in sehr beengten Wohnverhältnissen.

Es gab Kritik an den Maßnahmen der Regierung, zuletzt aber auch an den Lockerungen. Vielen kommen sie spät, andere – vor allem Apotheker und Ärzte sagen etwa in RELATUS-Umfragen – , dass die Lockerungen zu früh sind. Wir haben alle Öffnungsschritte anhand einer klaren Strategie gesetzt. Sobald wir die Tagessteigerung an positiv Getesteten auf eine zweistellige Zahl reduzieren konnten, haben wir im 14-Tage-Rhythmus Lockerungen gesetzt und stets genau kontrolliert, ob die Zahlen in den betroffenen Bereichen wieder nach oben gehen. Zu meiner eigenen Überraschung sind die Neuinfektionen unglaublich niedrig geblieben, wir haben bisher bei keinem Schritt größere Auswirkungen bemerkt. Dass wir den richtigen Zeitpunkt für den Lockdown so präzise erwischt haben, zeigen alle Daten und auch internationale Vergleiche – es war aber natürlich auch glücklich. Rechenmodelle zeigen: Nur eine Woche später, und die Infektionszahlen hätten sich vervierfacht. Aber neben Glück braucht es auch Entschlossenheit und hervorragende Berater. Das hatten wir alles. Und eine großartig engagierte Bevölkerung. Jetzt haben wir eine stabile Situation. Ich sage aber auch deutlich: Wenn die Zahlen wieder stark steigen, werden wir sehr rasch eingreifen. Ich gebe aber zu, dass es eine große Herausforderung ist, die Öffnungsschritte zu verwirklichen.

Das Interview führte Martin Rümmele