„Gewalt gegen Gesundheitsberufe wird nicht ernst genommen“

(c) Minitta Photography

Die Ärztin und Wiener Kommunalpolitikerin Mireille Ngosso (SPÖ) spricht im RELATUS-Sommergespräch über Migrant:innen im Gesundheitswesen und Gewalt gegen Gesundheitsberufe.

Hass und Gewalt gegenüber Gesundheitsberufen sind gerade aktuelle Themen in Gesundheit und Politik. Was läuft hier falsch in Österreich? Der aktuelle Vorfall hat mich sehr schockiert. Dass eine Frau, die sich für die Gesundheit der Menschen einsetzt und wissenschaftsbasiert arbeitet, so im Stich gelassen wird, obwohl bekannt war, dass sie bedroht worden ist. Das zeigt mir, dass sich gefährliche, patriarchale Strukturen durch alle Teile der Gesellschaft ziehen, auch in der Medizin, und dass dieses Problem nach wie vor nicht ernst genommen wird. Es braucht eine eigene Abteilung in den Anstalten, wo man sich beschweren kann und Hilfe bekommt. Ich denke, es ist wichtig, dass Spitäler zu 100 Prozent hinter ihren Mitarbeiter:innen stehen. Es muss ein System geschaffen werden, das es erlaubt, in solchen Fällen besser und schneller handeln zu können.

Sie setzen sich als Ärztin und auch als Politikerin für Diversität und Inklusion ein. Welche Herausforderungen gibt es im Gesundheitswesen? Nicht-Mediziner:innen sind auf eine adäquate medizinische Behandlung angewiesen, doch das bedeutet, dass unsere Gesundheit in den Händen von Ärzt:innen liegt, die nicht immer ausreichend in Gendermedizin, Diversität und über Rassismus unterrichtet wurden und deshalb nicht wissen inwiefern sich Symptome und Krankheitsbilder bei Männern und Frauen oder bei Menschen mit Migrationsbiographie unterscheiden. Schuld daran sind nicht die einzelnen Ärzt:innen. Es handelt sich um ein strukturelles Versagen, denn bis heute fokussiert die medizinische Lehre, genau wie medizinische Fachbücher, auf den durchschnittlichen 80-Kilo schweren, weißen, heterosexuellen Mann.

Und wie ist der Umgang mit Beschäftigten? Die Medizin ist in vielen Fällen konservativ und von patriarchalen Strukturen durchzogen. Beim Personal nimmt Diversität nach oben hin auch ab: Menschen mit Migrationsbiografie findet man immer noch am häufigsten beim Reinigungspersonal. Im Management sitzen dagegen eher weiße Männer über 50 Jahren. Ein Problem ist also auch Repräsentation. Wir brauchen mehr Frauen und mehr Menschen mit Migrationsbiografien in der Medizin – mehr Diversität. Wenn man jemanden sieht, der einem selbst ähnlich ist, weiß man, dass man es auch schaffen kann. Als ich auf die Allgemeinchirurgie gekommen bin, war das nicht meine erste Wahl. Aber ich habe dort mit zwei Oberärztinnen zusammengearbeitet, die mich sehr beeindruckt haben. Deswegen wollte ich ursprünglich auch Chirurgin werden, bevor ich mich umentschieden habe. Die fehlende Repräsentation von Menschen mit Migrationsbiographie und Frauen in der Medizin können zu Fehldiagnosen, falscher Behandlung und kann im schlimmsten Fall tödlich enden.

Wie versuchen Sie selbst etwas gegen Vorurteile zu tun? Der Wiener Gesundheitsverbund hat vor ein paar Monaten eine Arbeitsgemeinschaft ins Leben gerufen, wo interdisziplinär zusammengearbeitet wird: Pflegepersonal, Physiotherapeut:innen, Ärzt:innen. Wir möchten gemeinsam Gendermedizin und Diversität im Gesundheitswesen forcieren. Anfang Oktober soll es dann Workshops geben, beispielsweise einen Diversität-Workshop. Dort soll erklärt werden, wie sich Rassismus in der Medizin äußert und was jede:r dagegen tun und wie das eigene Wissen erweitert werden kann. Ein aktuelles Thema in diesem Zusammenhang sind Pulsoximeter. Wir wissen seit 2013, dass der Pulsoximeter nicht bei einer Schwarzen Haut funktioniert. Das ist vor allem jetzt, in einer Pandemie mit Lungenkrankheit, katastrophal. Wir haben die vergangenen drei Jahre mit verfälschten Daten arbeiten müssen. Es gibt also noch genug zu tun. Ich hoffe, wir können mit der Arbeitsgemeinschaft für Veränderung sorgen. Als Politikerin möchte ich daran arbeiten, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für diese Veränderung zu schaffen.

Einen Ruf nach Veränderung gibt es im Gesundheitswesen derzeit in Bezug auf den oft angesprochenen Ärzt:innen- und Pflegemangel. Wie erleben Sie das? Das ist sehr stark spürbar. Die Pandemie hat bereits vorhandene Probleme noch verstärkt. Viele Stationen werden geschlossen, weil es kein Pflegepersonal gibt. Der Pflegemangel ist aber kein neues Problem, genauso jener bei den Ärzt:innen, aber es wurde nichts getan. Gerade bei den Anerkennungen von Berufsqualifikationen bei Mediziner:innen aus dem Ausland denke ich, könnten man es den Menschen leichter machen. Wir brauchen die Unterstützung. Die Nostrifikationen zu erleichtern wären ein Punkt, wo man ansetzen könnte.

Vor welchen weiteren Herausforderung stehen Spitalsärzt:innen derzeit? Bereitet man sich schon auf den Herbst vor? Corona ist nach wie vor eine große Herausforderung. Die neue Welle wird kommen und es wird politisch nicht darauf eingegangen. Wir sind zum dritten Mal nach dem Sommer unvorbereitet. Im Personal fallen jetzt schon viele aus. Der Herbst wird sicher eine harte Zeit, es sind viele schon ausgelaugt.

Trotz Pandemie und Pflegemangel wollen junge Mediziner:innen eher ins Spital als in den niedergelassenen Bereich. Wie könnte man das ändern oder zumindest ausgleichen? Allgemeinmedizin ist teilweise immer noch verschrien. Da heißt es schnell einmal, man wäre für ein bestimmtes Fach nicht gut genug. Eine Attraktivierung des Berufs wäre also dringend notwendig. Es sollte aufgezeigt werden, was es eigentlich bedeutet, Allgemeinmediziner:in zu sein, was für eine Verantwortung man übernimmt und auch was es für Zusatzausbildungen gibt – das fehlt derzeit. Außerdem gehört der Beruf einfach besser bezahlt.

Sollte man hier schon in der Ausbildung ansetzen? Auf jeden Fall. Die Ausbildung mit der Lehrpraxis, in Wien sind es sechs Monate nach dem Dienst im Spital, ist nicht adäquat, das höre ich immer wieder. Man wird in eine Praxis gesetzt, soll am Tag 25 bis 30 Patient:innen behandeln, fühlt sich aber gleichzeitig noch nicht gut genug dafür und dann auch noch alleine gelassen. Das zieht sich teilweise durch die ganze Ausbildung. Viele sind natürlich schlichtweg zu überlastet, um zusätzlich noch auszubilden. Das führt dazu, dass Turnusärzt:innen oft frustriert sind. Wir machen viel Schreibarbeit und Organisatorisches, weshalb dann die Zeit fehlt, uns das medizinische Wissen anzueignen, dass man für die Arbeit tatsächlich braucht.

Könnte der vielfach gewünschte Facharzt für Allgemeinmedizin die Lage verbessern? Ich hoffe es. Ich hoffe, dass es nicht einfach nur ein Titel ist. (Das Interview führte Katrin Grabner)