Next Generation Symptom-Management im Zeitalter der personalisierten Medizin

Die Etablierung von PROMs im Symptom-Management der Telemedizin ist vergleichbar mit einem Mikroskop, das die Vergrößerung und Auflösung an den Bedarf anpasst, ohne das Blickfeld zu verkleinern. Wir begleiten international Patienten mittlerweile schon seit Jahren mit Textbotschaften, Telefon- und Videokonferenzen (Telemedizin 1.0) – hier liegt der Hauptnutzen auf der Überwindung der räumlichen Distanz, sonst sind die Leistungen (und realen Kosten) ähnlich dem persönlichen Kontakt. In einem weiteren Schritt wurden Vernetzungen mit anderen medizinischen Daten wie z. B. Labor-, Röntgenbefunden und Arztbriefen in Form einer elektronischen Krankenakte angeboten (Telemedizin 2.0). Hier war Österreich durch ELGA und e-CARD weltweit führend. Herausfordernd waren das Zusammenführen und Sichten von Daten unterschiedlicher Formate, Alarmfunktionen und der Kostenersatz der fallweise aufwendigen Analyse der Daten. In der Telemedizin 2.0 wird im Wesentlichen das konventionelle Medizinsystem – diesmal aber elektronisch – abgebildet.

Der Hauptnutzen liegt u. a.

1.) wiederum in der Überwindung räumlicher Distanzen – „let data travel and not patients“,

2.) in der Reduktion von Doppelgleisigkeiten – soferne sie entdeckt werden,

3.) darin, wertvolle medizinische Befunde in einem virtuellen Archiv unabhängig von Öffnungszeiten und dem Ort stets verfügbar zu machen und

4.) standardisierte Datensätze für mögliche (DSGVO-konforme, anonymisierte und aggregierte) Analysen verfügbar zu machen.

Der Zugang zum Menschen und seiner Krankheit/Gesundheit sowie auch die Personalkosten bleiben im Wesentlichen unverändert.

Telemedizin 3.0 ergänzt diese Zugänge durch die Annahmen, dass die meisten Menschen einen Nutzen darin erkennen, gesund zu sein, und Symptomerhebungen auf Angaben der Patienten beruhen. Solche „Patient Reported Outcome Measurements“ (PROM) sind mittlerweile seit über 14 Jahren entwickelt, durch eine Vielzahl von Studien validiert und Goldstandard des Symptom-Assessments. Es werden den internationalen Guidelines entsprechend Symptomerhebungen durchgeführt, und zwar gemäß den Angaben, die der Patient auf seinem Smartphone zu Hause selber eingibt. Je nach Erfordernis können diese elektronischen PROMs täglich (z. B. während einer Chemotherapie, bei medikamentöser Neueinstellung oder Umstellung sowie postoperativ) oder bei chronischen Erkrankungen z. B. wöchentlich oder im Bedarfsfall durchgeführt werden. Basierend auf diesen PROMs werden mit einfachen etablierten Algorithmen Risiken bestimmt, die zu einer automatischen Teletriage führen. Für diese Teletriage wird ein einfaches Ampelsystem verwendet: Je nach Symptomlast erfolgen bei milden Symptomen sofort Empfehlungen für Maßnahmen, die der Patient selbst durchführen kann („grüner Alarm“: Self-Care Advice, Guideline-konforme Empfehlungen, die passend zu den beschriebenen Symptomen als Text oder Video angeboten werden); bei moderaten Symptomen erfolgt zeitnah eine Kontaktaufnahme durch eine Pflegefachkraft („gelber Alarm“: z. B. Cancer Nurse), die bereits die PROM-Ergebnisse und den darauf basierenden Alarm zu Verfügung hat; bei schweren Symptomen („roter Alarm“) erfolgt der Kontakt durch den Arzt/die Ärztin, der/die die elektronische Krankenakte und den zeitlichen Verlauf der Symptomlast direkt verfügbar hat.

Durch Artificial-Intelligence-Systeme können mit diesen kurzfristigen Assessments nun Muster über Zeit („patterns over time“ – POT) erkannt werden, es kann die Symptomlast viel genauer als „Area under the curve“ berechnet werden, und es können Symptomänderungen durch einen Deltawert (Anstieg oder Abfall der Symptomlast) genau bestimmt werden. Solcherart sind Muster erkennbar (z. B. im 1. Monat einer neuen Therapie), die prädiktiv für Probleme im 2. oder 3. Monat dieser Behandlung sind. Dadurch können wir vorbeugend Probleme vermeiden, statt sie später teuer lösen zu müssen. Es werden durch die systematisch, standardisiert und regelmäßig erhobenen PROMs Zusammenhänge zwischen Symptomen (Symptomcluster) erkennbar, die bei einzeitigen Untersuchungen in Ordinationen und Spitalsambulanzen nicht wahrgenommen werden. Der Einsatz von ePROMS ist vergleichbar mit der Einführung des Mikroskops in der Medizin, die Auflösung der Symptomlast erhöht sich signifikant. Ähnlich dem Erkenntnisgewinn durch die Vergrößerung des Mikro-skops werden nun neue Zusammenhänge und Kausalitäten erkennbar. Wir erhalten nunmehr „real world data in real time“ gleichsam über ein Mikroskop, das die Auflösung und Vergrößerung an die Bedürfnisse der Patienten und Fragestellungen des Arztes anpasst, ohne das Blickfeld zu verkleinern.

Ein integrativer Ansatz mit Nutzen für alle Bereiche des Gesundheitssystems: Die Integration dieser Drittgenerationen der Telemedizin in ein virtuelles Gesundheitszentrum unter Einbindung von ELGA-Funktionen wie e-Impfpass, e-Rezept, der Vernetzung zwischen niedergelassenem Bereich und Spitälern erhöht den Nutzen für unser Gesundheitssystem. Ein wesentlicher Aspekt ist die Stärkung der Autonomie der Patienten, ihrer Partner und Kinder durch das Angebot einer qualifizierten Unterstützung dann, wann sie benötigt wird, dort, wo sie benötigt wird. Durch den unmittelbaren (intrinsischen) und zeitnahen Nutzen, den die Betroffenen durch die Eingabe ihrer PROMs erfahren, führen die Betroffenen diese Erhebungen besonders gewissenhaft durch. Es kommt zu einer Stärkung von Resilienz und Adhärenz. Der Nutzen für Pflege und Ärzte liegt in der Reduktion der Dokumentation, der Auslagerung von Routine-Assessments, dem Bereitstellen standardisierter Informationen für Betroffene, sodass wieder mehr Zeit für die Begegnung mit Patienten verfügbar ist. Der Nutzen für die Zahler (Sozialversicherungen, Spitäler, …) besteht in einer Effizienzsteigerung, Pandemietauglichkeit, in flächendeckenden Angeboten und der Möglichkeit, datenbasiert Ressourcen und Angebote steuern zu können.

Die Frage der Renumeration ist durch die aktuelle Krise zunächst ein wenig erleichtert. Das heißt, telemedizinische Leistungen sind abrechenbar, allerdings liegt die Herausforderung darin, dass ein genauer Leistungskatalog für eine Abrechnung erst etabliert werden muss.

Zu Fragen der Rundumverfügbarkeit des medizinischen Personals lässt sich festhalten, dass e-Smart im anglosächsischen Raum in den Routinedienst integriert ist. Bei uns in Österreich haben wir Krankenschwestern und Ärzte in einem Teilzeitmodell angestellt, sodass ein Dienstrad 7/24 bespielt werden konnte. Allerdings erfolgen 99 % des Symptom-Assessments in der regulären Arbeitszeit, d. h., die Rundumverfügbarkeit braucht man eigentlich nur für Ausnahmefälle, die letztlich durch die diensthabende Mannschaft oder den Notdienst abgedeckt werden können. Wenn es ein Notfall ist, brauche ich keine Telemedizin, in solchen Fällen muss eine Hotline angerufen werden.

Telemedizin wird im NHS seit über 10 Jahren in der Routine eingesetzt. Während der COVID-19-Pademie kommt es gerade für Risikogruppen zu einem gezielten Einsatz telemedizinischer Lösungen (z. B. Docobo´s doc@home). Wir sprechen von einer etablierten Methode im Sinne eines CE-zertifizierten Medical Class-I/IIa-Device, das durch prospektiv randomisierte Studien getestet ist und dabei zeigt, dass die Methode besser ist als der Goldstandard „Best Supportive Care“*).

In Österreich ist das ESMART-System derzeit an der Medizinischen Universität Wien an der Abteilung für Hämatologie verfügbar und im Rahmen der ESMART-Studie auch an den Abteilungen für Onkologie und Gynäkoonkologie. Die Technik benötigt ein Smartphone, das als Medical Device dient, auf dem das System datenschutzkonform verschlüsselt geladen wird (medical device class I und IIa App). Das System kann prinzipiell in ganz Österreich innerhalb von Wochen hochgeladen werden. Es ist ELGA-konform, d. h., es wird in Kürze als Episodenbericht in die elektronische Gesundheitsakte eingespielt. Wenn ein Patient in Wien von einem Arzt betreut wird und in einem anderen Bundesland ein medizinisches Problem bekommt, dann können Informationen über ELGA direkt in das Krankenhausinformationssystem vor Ort importiert werden.

Der europäische Weg: Die Frage ist, ob es einen europäischen Weg geben wird oder ob wir nur ein Verkaufsmarkt für US-amerikanische oder chinesische Produkte sein werden. Es gibt einen klaren Konsens zwischen den meisten EU-Mitgliedsstaaten und der Europäischen Kommission, dass ein datenschutzkonformer europäischer Weg eingeschlagen wird, der Bürgerrechte integriert und Ärzte und Wissenschafter an Bord holt, die die Systeme gestalten, die im Sinne der Aufklärung und einer „open access policy“ allen verfügbar gemacht werden. Das Wesentliche bei Patient-Reported Outcome Measurements (PROM) ist, dass sie gemeinsam von Betroffenen, Angehörigen, Patienten, Selbsthilfegruppen gestaltet und adaptiert werden, etabliert sind, mit einem Feedback-Prozess angepasst werden. Dieser „Made in Europe“-Weg ist ein grundsätzlich anderer Zugang, als primär Daten zu sammeln und als Datenhändler Wissen zu privatisieren (USA) oder zu verstaatlichen (China). Freie Menschen werden die Möglichkeit haben, sich zwischen diesen 3 Systemen zu entscheiden.

Integration in bestehende Systeme: Der europäische Weg wird eine Hybridlösung sein in dem Sinn, dass evidenzbasierte neue Systeme in etablierte Systeme integriert werden und die bestehenden Akteure unterstützen, nämlich bei den großen Aufgaben, die auf uns zukommen, allen voran das chronic disease management – Tumorerkrankungen werden immer mehr zu chronischen Erkrankungen. Wir brauchen solche Systeme aber auch für Krisensituationen wie Covid-19, die ja nur eine von mehreren Pandemien der letzten 30 Jahre ist. Solche Pandemien sind nicht so selten, wie wir glauben, und dafür brauchen wir eine pandemietaugliche Gesundheits-Infrastruktur. Das heißt, die Lösungen sollen – wie in der Automobilindustrie ein Hybridmotor – in das Bestehende integriert werden.

Die Tumortherapien werden unter Anleitung und Aufsicht der leitenden ÄrztInnen durchgeführt. ÄrztInnen im Tumorboard werden Entscheidungen treffen und nicht die Algorithmen. Das, was sie aber bekommen, ist eine Unterstützung, damit sie nicht jeden Tag aufs Neue Schmerzen, Nausea, Diarrhoe und Mucositis abfragen müssen und durch „underreporting“ Symptome zu spät erkannt und behandelt werden. Genau das bewerkstelligen telemedizinische Tools, dass wir Risikosituationen frühzeitig erkennen, dass wir Probleme vermeiden und nicht mehr lösen müssen – aber immer unter Leitung und Aufsicht der bestehenden Akteure.

 

*) Die European Organisation for Research and Treatment of Cancer (EORTC) definiert Best Supportive Care wie folgt: „Supportive Behandlungsmaßnahmen für Krebspatienten umfassen das multiprofessionelle Bemühen um die individuellen, allumfassenden physischen, psychosozialen, spirituellen und kulturellen Bedürfnisse und sollten zu jedem Zeitpunkt der Krankheit für Patienten allen Alters und unabhängig von der gegenwärtigen Behandlungsintention der gegen die Krankheit gerichteten Maßnahmen verfügbar sein.“

Die Auslegung dieser Definition lässt jedoch einen erheblichen Gestaltungsspielraum zu, sodass diese Definition von vielen Autoren als unzureichend betrachtet wird.

Generelle Aspekte von Best Supportive Care sind:

  • Verbessern der Voraussetzungen für die Durchführbarkeit onkologischer Therapien
  • Vermindern des Auftretens unerwünschter Nebenwirkungen von potenziell toxischen Therapien
  • Erhalt oder Steigern der Lebensqualität des Patienten
  • Lindern krankheitsbedingter Symptome
  • Verbessern der Prognose der Behandlungsergebnisse

(aus Wikipedia, Best Supportive Care)