Personalisierte Medizin – Erwartungen, Erfolge, Herausforderungen

Bevor wir auf die Gründe dafür eingehen, ein paar Worte zur Begriffsbestimmung. Der Drang zur personalisierten Medizin ist naturgemäß in den medizinischen Fächern am stärksten ausgeprägt, in denen Licht und Schatten eng beisammenliegen. Jene klinischen Bereiche also, in denen Wirkungen und Nebenwirkungen scharf aneinandergrenzen und sich zumeist überlagern. Dabei fallen einem spontan die medikamentöse Therapie von HIV oder Krebs ein. Personalisiert ist dabei die berechtigte Hoffnung auf eine maßgeschneiderte Therapie, die den individuellen Patienten an die Stelle der statistischen Kohorte stellt, wie wir sie aus den klinischen Studiendesigns kennen. An diesen Paradigmenwechsel knüpft sich die Erwartung, bei minimalem (und daher gut akzeptablem) Nebenwirkungsspektrum den therapeutischen Nutzen zu maximieren.

Welche Erwartungen und welcher Nutzen wären damit verbunden? Mit dieser Frage schließen wir die runde Klammer des vorigen Absatzes und kehren zu den handelnden Personen zurück. Alle erwarten dabei etwas. Alle, das sind allen voran der Patient, der behandelnde Arzt, die onkologischen Pflegeberufe, die Krankenhaus- und Sozialversicherungsträger und letztlich das Gesundheitswesen als Ganzes. Selbst die Pharmaindustrie wird ihre Möglichkeiten neu definieren, wie auch die Krankenhausökonomie ihre eindimensionale Sichtweise mit harten Daten in Richtung echter Effizienz weiterentwickeln wird können.
Wem nützt daher diese Entwicklung? Eindeutig allen bereits Genannten. Vielleicht am unmittelbarsten den Patienten, die der Adressat dieses Konzeptes sind. Die Umsetzung dieser Idee wird noch Jahre dauern, begonnen hat sie in ihren ersten Ansätzen bereits heute.

Was benötigen wir dazu? Da sind zuerst zusätzlich zu den klassischen Parametern, auf denen wir heute Therapie aufbauen, eine detaillierte Charakterisierung des Tumors und in der Folge seiner Matrix: Idealerweise verfügen wir über Daten auf genetischer, molekularer und funktionaler zellulärer Ebene. Aus diesen Informationen werden die therapeutisch relevanten Targets extrahiert und gereiht. In dieser Reihung werden die Wahrscheinlichkeit auf Ansprechen ebenso wie die zu erwartenden Nebenwirkungen und Vortherapien des Patienten berücksichtigt. Bei dieser Datenflut werden auch ausgeklügelte mathematische Algorithmen eine zentrale Rolle spielen. Die gesamte In-vitro-Diagnostik wird extensiv um Genetik und molekulare Pathologie erweitert. In der Onkologie sprechen wir schon heute von über 200 relevanten genetischen Mutationen; diese Zahl wird weiter steigen. Dabei werden sich Größen wie Tumorlokalisation und Organgrenzen zugunsten einer funktionellen Klassifikation der Krankheit relativieren.

Wäre das alles? Nein, denn die Ziele gehen langfristig sehr viel weiter. In der Folge könnten systembiologische Ansätze, die heute noch in den Kinderschuhen stecken, in Richtung Systempharmakologie ausgebaut werden. Es geht dabei um die Vorhersage, wie die Krebszelle des Patienten unter der gegebenen Therapie reagieren wird. Dieses mit Patientendaten gefütterte Modell könnte also neben dem Therapieerfolg auch mögliche Resistenzmechanismen aufzeigen und alternative Behandlungs­wege vorschlagen.
Ergeben hat sich dies alles aus einer fulminanten Entwicklung des experimentellen onkologischen Verständnisses zur Entstehung und Progression der Malignome. Die Erkenntnisse der Tumorbiologie in ihre pharmakologische Anwendung zu übersetzen ist schlichtweg die Herausforderung des kommenden Jahrzehnts. Die Bereitschaft aller, sich auf diesem Weg anzuschließen, ist dafür ebenso Voraussetzung wie das Aufrechterhalten der jetzigen Aufbruchsstimmung. Wir treten eine sehr lange Reise an. Ohne groß auf die Mühen zu achten, sind wir einfach losgegangen.
Diese Serie soll die ersten Erfolge auf diesem Weg aufzeigen und die Herausforderungen ansprechen. Wir beginnen mit dem Kolonkarzinom und werden in den kommenden Ausgaben auf ausgewählte Tumorentitäten eingehen. Sie haben richtig gehört: Tumorentitäten. Auch wenn unsere Konzepte weit über diese Grenzen hinausweisen, sei uns diese alte Gewohnheit für heute nachgesehen. Wir versprechen Besserung!