Das Bemühen um Interdisziplinarität, verstanden als gemeinsame Arbeit verschiedener Berufsgruppen oder Institutionen unter egalitären Bedingungen, ist seit vielen Jahren Thema in der Medizin. Insbesondere in der Psychiatrie oder psychiatrienahen Bereichen konnten bisher deutliche Fortschritte in der Entwicklung von Teams von der Multiprofessionalität zur Interdisziplinarität erzielt werden. Interdisziplinarität kann auf zwei Weisen verstanden werden: einerseits als gleichberechtigtes Miteinander von unterschiedlichen Berufsdisziplinen (in der Suchtmedizin sind dies Psychiater, Mediziner aus sogenannten „somatischen Fächern“, Gesundheits- und Krankenpflege, Psychologie, Psychotherapie, Ergotherapie, Sozialarbeit u. a.), andererseits als parallele oder sequentielle Koopera – tion von unterschiedlich fokussierten Strukturen des Gesundheits- und Sozialwesens in der Behandlung komplex erkrankter Menschen. Im ersten Fall, innerhalb von Teams, gelingt es in der Regel Interdisziplinarität zu leben, schwieriger erscheint das Erreichen einer für die Patienten hilfreichen Interdisziplinarität zwischen Behandlungsstrukturen.
Man könnte also von einer Fragmentierung des Betreuungssystems sprechen, welche sich am Beispiel des Suchthilfesystems gut zeigen lässt. So unterscheidet Wienberg (1992) drei Bereiche im Gesundheitssystem, welche auf ganz unterschiedliche Weise mit Suchtkranken in Berührung kommen.
Die interdisziplinäre Betreuung von Alkoholkranken spielt sich also in einer enormen Bandbreite von basismedizinischer Versorgung, Akutintervention und rehabilitativen Interventionen ab. Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen werden je nach Krankheitsphase, Sozialisationsgrad, Ausmaß der Zusatzerkrankungen und vielen anderen Parametern bestimmt. Viele dieser Institutionen arbeiten relativ abgeschnitten voneinander und fühlen sich häufig in ihren Bedürfnissen nach weiterführender Unterstützung missachtet.
Aufgrund der oftmaligen Erfahrung von Isoliertheit im Gesamtsystem wurde in den letzten Jahren versucht, diesem Umstand mit der Strategie aktiver Vernetzung im Sinne von systematischen Treffen bzw. Kooperationsvereinbarungen zu begegnen. Betrachtet man jedoch die Fülle der mit dem komplexen Krankheitsbild Alkoholabhängigkeit befassten Institutionen (Abb.), wird deutlich, dass es zur Erreichung einer patientenorientierten interdisziplinären Betreuung übergeordneter inhaltlicher und formaler Regelungen bedarf, welche sich an generellen Behandlungszielen orientieren, aus welchen sich dann verbindliche fokussierte Aufgaben und Kooperationsrituale ergeben sollten.
Schwerpunkte interdisziplinärer Zusammenarbeit Die Wichtigkeit von niedergelassenen praktischen Ärzten in der Basisversorgung der Bevölkerung steht außer Zweifel. Für den Umgang mit Suchtkranken im vorklinischen Feld stehen Hausärzten zahlreiche unaufwändige Manuale zu Interventionstechniken in Richtung Früh – intervention zur Verfügung (als Beispiel siehe Tab. 1).
Die Anwendung dieser partnerschaftlich orientierten und motivationsfördernden Methoden würde die vielerorts schon gut funktionierende Kooperation zwischen Basismedizin und suchtspezifischer Beratungsstelle noch deutlich verbessern. Ähnliches gilt für die Möglichkeiten des somatischen Krankenhauses in Kooperation mit aufsuchenden psychosozialen Diensten, im besten Fall sogar einer krankenhausassoziierten Alkoholambulanz bzw. ausreichend vorhandenen Konsiliarärzten.
In der Versorgung Suchtkranker spielen niedergelassene Fachärzte für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin eher eine untergeordnete Rolle. Dies liegt möglicherweise an der in großen Bereichen Österreichs traditionellen Spaltung der Psychiatrie in eine suchtspezifische Behandlung an dafür vorgesehenen Orten gegenüber einer Allgemeinpsychiatrie ohne dezidierte suchtspezifische Zuständigkeit über die Krisenintervention hinaus.
Suchtmedizinische Spezialeinrichtungen im subakuten und rehabilitativen Bereich sollten vor allem für die somatische und Basismedizin deutlich einfacher und schneller erreichbar sein, vorzugsweise durch großzügig ausgebaute Ambulanzen.
Neben diesen strukturellen Gegebenheiten scheint es zur Überwindung disziplinärer Fragmentierung dringend not – wendig zu sein, überregionalen Konsens bezüglich der Behandlungsziele bei Abhängigkeitskranken zu erzielen. Die Ebenen des Erfolgs können in einer Hierarchie von Behandlungszielen angeordnet werden.
Die Generalziele angemessener Suchtkrankenhilfe sind in der Tabelle 2 zusammengefasst. Aus diesen Generalzielen können spezifische fokussierte Interventionen und damit verbundene verbindliche Kooperationsrituale für alle Strukturen und Disziplinen im Gesundheitswesen entwickelt werden. Bei Betrachtung der Komplexität der Ziele wird auch klar, dass jeder Behandlungsbereich eine enorm wichtige Funktion hat.
Leider sind jedoch Abhängigkeitserkrankungen auch in der medizinischen Ausbildung nicht ausreichend und ihrer Häufigkeit angemessen als Lehrinhalte vertreten.
Immer wieder machen Professionisten im Suchthilfesystem die Erfahrung, dass ihre Bemühungen um Interdisziplinarität und Vernetzung nur mit enormem Energieaufwand fruchten oder sogar scheitern. Hier ist die Ursache sicherlich auch in der zersplitterten österreichischen Finanzierungs- und Trägerlandschaft auf Bundesund Landesebene mit allen damit verbundenen konkurrierenden Partialinteressen zu suchen. Eine nationale Suchtstrategie mit festgelegten Zielen, Methoden und Zuständigkeiten fehlt bisher, in den einzelnen Bundesländern existieren teilweise völlig differente politische Zuständigkeiten für medizinische und soziale sowie für ambulante und stationäre Strukturen. Aus suchtmedizinischer Sicht liegt die Hoffnung auf der Entwicklung verbindlicher und regional sinnvoll eingerichteter integrativer Konzepte, welche sich an wissenschaftlich abgesicherten Erfolgskriterien und Behandlungsstrategien orientieren.
resümeeBetrachtet man Sucht als chronische Erkrankung mit einem typischen Krankheitsverlauf im Sinne einer Abfolge von aktiven und inaktiven Phasen, so bestünde der Auftrag eines interdisziplinären Betreuungssystems in der flexiblen Begleitung von Patienten durch eine Landschaft von miteinander funktionell verbundenen Einrichtungen, die den aktuellen Bedürfnissen angepasst sind. Wesentliche Grundlagen dafür sind gesundheitspolitische suchtspezifische Rahmenbedingungen auf der Basis wissenschaftlich abgesicherter Zielkriterien sowie die verstärkte Berücksichtigung suchtmedizinischer Inhalte in der medizinischen Ausbildung.
Literatur:
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