Schmerz – ein psychophysisches Erlebnis

Bei akutem Schmerz steht oft die sensorische Komponente im Vordergrund, dennoch kommt eine emotionale Komponente vor. Jeder, der sich schon einmal mit dem Hammer den Daumen verletzt hat, weiß, wie emotional „ergriffen“ er dabei war.

Bei chronischem Schmerz steht die emotionale Komponente häufig im Vor dergrund. Sensorische Aspekte mögen vorhanden sein, aber können das Ausmaß und die Dauer der Schmerzen nicht vollständig erklären. Der chronische Schmerz wird zu einer eigenständigen Störung. Im ICD-10 gibt es für anhaltende Schmerzen, für die keine ausreichende medizinische Erklärung gefunden werden kann und die in Zusammenhang mit psychosozialen Faktoren stehen, eine eigene Diagnose: „anhaltende somatoforme Schmerzstörung (F45.4)“2, 3.

Chronischer Schmerz

Chronischer Schmerz sollte immer im Kreise von Haltungen, Überzeugungen, psychologischen Stressfaktoren, Krankheitsverhalten und sozialen Faktoren gesehen werden. Beim Vorhandensein chronischer Schmerzen ist es aus psychiatrischer Sicht besonders wichtig, auf folgende Dimensionen zu achten: Neben der psychosozialen Beeinträchtigung auf Depression, Angst, insbesondere hypochondrische Ängste, Traumatisierung, Schlafstörung, Somatisierung, substanz induzierte Probleme und Suizidalität. Die Identifizierung dieser Dimensionen hilft einerseits in der „Modellbildung“ der Schmerzstörung und weist andererseits auf die notwendigen Therapieinterventionen.

Bei ausgeprägten psychosozialen Beeinträchtigungen wird es wichtig sein, die Bedürfnisse zur Unterstützung der Patienten zu erfassen und entsprechende Schritte in die Therapieplanung mit einzubeziehen. Oft sind mehrschrittige Rehabilitationsmaßnahmen nötig, um eine entsprechende Teilhabe am sozialen Leben zu ermöglichen.

Depressive Symptomatik hat eine sehr enge und vielschichtige Beziehung zu chronischem Schmerz. So wurde „chronischer Schmerz“ häufig auch als „larvierte Depression“ bezeichnet, z. T. wegen der klinischen Ähnlichkeit – sozialer Rückzug, Verstimmung, Aktivitätshemmung etc. Heute wird die Beschreibung im Sinne einer „Komorbidität“ „favorisiert“. So ist es möglich, dass Patienten sowohl die Diagnose einer Depression als auch einer anhaltenden Schmerzstörung erfüllen, aber natürlich auch, dass diese Störungen unabhängig voneinander auftreten. In eigenen Untersuchungen fanden wir bei etwa einem Drittel der chronischen Schmerzpatienten eine ausgeprägte depressive Symptomatik, bei einem Drittel eine subdepressive Symptomatik und bei einem Drittel keine depressiven Symptome. Depression kann einerseits das Risiko zur Schmerzchronifizierung erhöhen und andererseits das Schmerzerleben intensivieren.

Schmerzchronifizierung: In einem „Dekonditionierungszyklus“ kommt es durch das Rückzugsverhalten zu einem Verlust psychischer und physischer „Fitness“, sodass in einem Teufelskreis das Krankheitsbild verstärkt wird.

Das „Angst-Vermeidungs-Modell“ erklärt, wie ein ängstliches Vermeidungsverhalten zur Schmerzchronifizierung beiträgt. Durch Vermeidung von gesundheitsfördernder Aktivitäten kommt es zu einem Teufelskreislauf, dessen Ergebnis die Schmerzchronifizierung darstellt (Dekonditionierungszyklus auf körperlicher und psychischer Ebene).

Genauso ergibt aber ein starres „Schmerz- Durchhalteverhalten“ einerseits durch Bagatellisierung, andererseits durch falsch verstandenes Pflichtbewusstsein ebenso einen Risikofaktor für Schmerzchronifizierung4.

Fehlgeleitetes Substanzeinnahmeverhalten kann ebenfalls zur Schmerzchronifizierung führen. Das beste Beispiel dafür ist der schmerzmittelinduzierte Dauerkopfschmerz, bei dem die Kopfschmerzen durch einen Schmerzmittelabusus chronifiziert werden. Dabei spielt das Einnahmeverhalten die entscheidende Rolle: Zu häufige Bedarfsmedikation schaukelt die Kopfschmerzen erst recht auf. Substanzabusus z. B. von Nikotin oder Alkohol kann ebenfalls zu Schmerzsyndromen beitragen.

In einem Teufelskreis zwischen Schmerzen und Schlafstörung kann es gleichfalls zur Schmerzchronifzierung kommen. Wer schlecht schläft, entwickelt Schmerzen bzw. hat eine erniedrigte Schmerzschwelle, wie in Schlafentzugsexperimenten nachgewiesen werden konnte.

Wer Schmerzen hat, schläft wiederum schlechter und die Erholungsfunktion des Schlafes kann nicht zum Tragen kommen. Es kann sich eine neurohumorale Dysregulation entwickeln, wie sie im „Dysregulation Spektrum Syndrome“5 beschrieben ist.

Die Somatisierung kann nach Lipowski (1988) als Krankheitsverhalten definiert werden, bei der die Tendenz vorhanden ist, psychosozialen Stress in Form von körperlichen Symptomen wahrzunehmen, zu kommunizieren und hierfür medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Dabei ist nach Kellner (1990) die Somatisierung ein multimodales Bedingungssystem und keine diskrete klinische Identität, kein einheitlicher pathologischer Prozess6.

Therapie chronischer Schmerzen

Wichtig für eine optimale Schmerztherapie ist vor allem die grundsätzliche Unterscheidung zwischen akutem und chronischem Schmerz. Die Therapie chronischer Schmerzen sollte nicht nur „unimodal“ erfolgen. Immer sollten mehrere Therapieansätze abgestimmt parallel eingesetzt werden. Dabei sollte die konservative Schmerztherapie aus psychiatrischer Sicht auf drei Säulen aufbauen: medikamentöse Therapie, Psychotherapie und Physiotherapie.

Antidepressiva: Bei chronischen Schmerzen können Antidepressiva eine Reduktion der Schmerzen bewirken: Als Koanalgetikum bei chronischem Schmerz, z. B. chronischer Kopfschmerz, Polyneuropathie, Fibromyalgie, Rückenschmerz, und als „Antidepressivum im engeren Sinne“ bei Komorbidität von Schmerz und Depression, Angststörung, Schlafstörung können Antidepressiva eingesetzt werden. Vorteile sind Fehlen einer Toleranzentwicklung, direktes Eingreifen in das Schmerzsystem auf nozizeptiver (sensorischer) Ebene und auf „emotionaler Ebene“, die Verhinderung von Chronifizierungsprozessen über Extinktion neuroplastischer Vorgänge, die Mitbehandlung depressiver Symptome und die günstige Beeinflussung kognitiver Prozesse7. Die Effektstärke der Antidepressiva bei chronischem Kopfschmerz beträgt 0,8 bis 1,18, bei funktionellem gastrointestinalem Schmerz 0,99, bei Fibromyalgie 0,44 bis 0,5210, bei somatoformen Schmerzen 0,4811 und bei chronischem Rückenschmerz 0,4112.

Psychotherapie: Im Rahmen der Therapie chronischer Schmerzen spielen psychotherapeutische Therapiebausteine eine ebenso wichtige Rolle: Ausgehend von psychoedukativen Elementen zur Etablierung eines biopsychosozialen Schmerzmodells bis zur Unterstützung des Schmerz-Copings, Entspannungstechniken und Bearbeitung von verstärkenden psychischen Faktoren kann die Psychotherapie eine breite Palette an Interventionsmöglichkeiten zur Schmerztherapie beitragen.

Flexibles Coping ist für die Verhinderung der Schmerzchronifizierung besonders wichtig: Der sensorische Schmerzanteil muss vermieden werden, wohingegen der emotionale Schmerzanteil konfrontiert werden muss. Die Kognitive Verhaltenstherapie in der Therapie des chronischen Schmerzes zeigt einer Metaanalyse zufolge eine mittlere Effektstärke von 0,5 bei chronischem Schmerz13.

Nach einer symptomorientierten Phase der Schmerzbewältigung kommt die Phase der symptomübergreifenden Psychotherapie nach den vier Wirkfaktoren der Psychotherapie: Klärung, Ressourcenaktivierung, Problemkonfrontation und Problembewältigung. Inhaltlich geht es z. B. über Identifikation und Bewältigung negativer Affektivität (Psychotherapie der Trauer, Wut, Angst), Verbesserung der emotionalen Ausdrucksfähigkeit, Vermittlung von Problemlöse- und Konfliktbewältigungsfertigkeiten, Identifikation und Bearbeitung früherer traumatischer Erfahrungen (Traumatherapie) oder um achtsamkeitsbasierte Therapieelemente („mindfulness“). Insbesondere bei depressiven Schmerzpatienten geht es darum, in einen „therapeutischen Rekonditionierungszyklus“ zu kommen.

Physiotherapie ist als dritte wichtige Säule in diesem Zusammenhang zu nennen. Besonders aerobes Training hat sich hier als wirksam erwiesen

1 International Association for the Study of Pain (IASP), Pain term: a list with definitions and notes on usage. Pain 1979; 6:249-252

2 Aigner M, Bach M, Clinical utility of DSM-IV pain disorder. Compr Psychiatry1999; 40:353-7

3 WHO (1994) International Classification of Diseases (ICD) – 10, Kapitel F

4 Hasenbring MI, Verbunt JA, Fear-avoidance and endurance-related responses to pain: new models of behavior and their consequences for clinical practice. Clin J Pain. 2010; 26:747-53

5 Yunus MB, Central Sensitivity Syndromes: A New Paradigm and Group Nosology for Fibromyalgia and Overlapping Conditions, and the Related Issue of Disease versus Illness. Semin. Arthritis Rheum 2008; 37:339-52

6 Kapfhammer HP, Somatoforme Störungen Historische Entwicklung und moderne diagnostische Konzeptualisierung. Nervenarzt 2001; 72:487-500

7 Künzel, Antidepressiva in der Schmerztherapie. Schweizerische Gesellschaft zum Studium des Schmerzes 2004; www.dolor.ch

8 Tomkins GE et al., Treatment of Chronic Headache with Antidepressants: A Meta-analysis. Am J Med 2001; 111:54–63

9 Jackson JL et al., Treatment of Functional Gastrointestinal Disorders with Antidepressant Medications: A Meta-Analysis. Am J Med 2000; 108:65–72

10 O’Malley PG et al. (2000), Treatment of Fibromyalgia with Antidepressants A Meta-analysis. J Gen Intern Med 15; 9:659-666

11 Fishbain DA et al., Do antidepressants have an analgesic effect in psychogenic pain and somatoform pain disorder? A meta-analysis. Psychosom Med 1998; 60:503–9

12 Salerno SM et al., The effect of antidepressant treatment on chronic back pain: a meta-analysis. Arch Intern Med 2002; 1681):19-24

13 Morley S, Eccleston C, Williams A, Systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials of cognitive behaviour therapy and behaviour therapy for chronic pain in adults, excluding headache. Pain 1999; 80:1-13