Blutdrucksenkung: Je tiefer, desto besser – oder Risiko J-Kurve?

Nach wie vor sind die optimalen Zielwerte einer antihypertensiven Therapie Gegenstand von Diskussionen. Die Strategie der letzten Jahre, „the lower the better“ insbesondere für unterschiedliche Risikogruppen, ist umstritten und wird auch in den aktuellen Leitlinien nicht mehr empfohlen, weil für eine aggressive Blutdrucksenkung entweder kein Benefit belegt oder sogar nachteilige Effekte (bezeichnet als J-Kurven-Phänomen) beobachtet werden konnten. UNIVERSUM INNERE MEDIZIN sprach mit Prim. Univ.-Prof. Dr. Jörg Slany über die Datenlage und die praktische Bedeutung dieses Phänomens.

 Herr Professor Slany, was ist unter dem J-Kurven-­Phänomen zu verstehen?

Der Terminus J-Kurven-Phänomen bezeichnet eine Beziehung zwischen Blutdrucksenkung und Folgeereignissen. Der Begriff wurde bereits aufgrund von Publikationen von Cruickshank (Lancet 1987, BMJ 1988) geprägt, wonach der optimale diastolische Blutdruck bei Patienten mit KHK und schwerer Hypertonie bei 85 mmHg liegt – und nicht nur höhere, sondern auch niedrigere Werte mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko assoziiert waren. Das Phänomen schien unabhängig von der Art und Intensität der Behandlung aufzutreten. Ein im Jahr 2009 von Messerli publizierter Überblick über 23 Therapiestudien bestätigte eine J-förmige Beziehung zwischen diastolischen Blutdruckwerten und Folgeereignissen (Messerli, JACC 2009).

 

Ist dieses Phänomen auch beim systolischen Blutdruck zu beobachten?
Ergebnisse von Post-hoc-Analysen zahlreicher rezenter Therapiestudien sprechen dafür, dass auch für systolische Werte eine J-förmige Beziehung zum Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse besteht.

 

Wie ist diese J-förmige Beziehung zu erklären – insbesondere vor dem Hintergrund der jahrelangen Bemühungen, möglichst niedrige Zielwerte zu definieren und diese auch zu erreichen?
Grundsätzlich ist es als selbstverständlich anzunehmen, dass zwischen Vitalparametern und den mit ihnen assoziierten Risiken eine J- oder U-förmige Beziehung besteht. Im konkreten Fall des Blutdrucks können zu niedrige Werte zur kritischen Unterperfusion von Organen führen, während zu hohe Werte Druckschäden an Gefäßen und Organen verursachen. Aus heutiger Sicht scheint allerdings nicht vollständig geklärt, ob die beschriebene Beziehung tatsächlich auf die aggressive antihypertensive Therapie per se zurückzuführen ist, oder ob sie auf Verzerrungen der Ergebnisse, etwa durch die unbemerkte Selektion von Patienten mit schlechter Prognose, beruht.

 

Kann aufgrund des heutigen Wissens an dem Konzept, den Blutdruck generell auf möglichst niedrig-normale Werte zu senken, festgehalten werden?
Daten sprechen dafür, dass es diesbezüglich Unterschiede zwischen den Patientenkollektiven gibt.
So zeigte eine im Jahr 2002 in „Lancet“ publizierte Metaanalyse eine kontinuierliche, loglineare Beziehung zwischen Blutdruckhöhe und verschiedenen Risiken; diese bildete die Basis für die Empfehlung, eine Hypertonie bei allen Betroffenen auf möglichst tiefe Werte zu senken. Allerdings waren in diese Analyse nur Studien mit Kollektiven ohne kardiovaskuläre oder renale Erkrankungen und ohne Diabetes eingeschlossen. Bestätigt wurde dieses Vorgehen durch Langzeitanalysen der Physicians’ Health und der Women’s Health Study, die keinen Hinweis auf eine J-förmige Beziehung erkennen ließen. Anders stellt sich die Situation in verschiedenen Risikogruppen dar, bei denen sehr wohl eine J-Kurve gezeigt wurde.

 

Wodurch ist dieser Unterschied zu erklären?
Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, Nierenerkrankungen oder Diabetes weisen in der Regel strukturelle und funktionelle Veränderungen in allen Abschnitten der arteriellen Strombahn einschließlich der großen, kleinen und kleinsten Gefäße auf. Dies legt nahe, dass tiefe Blutdruckwerte bei ihnen im Gegensatz zu Gefäßgesunden zu regionalen Minderperfusionen und Organschäden führen können.

 

Um bei kardiovaskulären Erkrankungen zu bleiben: Können Sie bitte auf die Effekte einer tiefen Blutdrucksenkung bei Patienten mit KHK eingehen?
Bereits in der HOT-Studie zeigte sich bei KHK-Patienten – im Gegensatz zu koronar Gesunden – ein erhöhtes Herzinfarktrisiko, wenn der diastolische Druck unter 80 mmHg gesenkt wurde im Vergleich zu einer Senkung unter 85 mmHg. In der INVEST-Studie wurden mehr als 22.000 Patienten mit chronischer KHK und Hypertonie antihypertensiv behandelt. Eine Analyse des Kollektivs nach verschiedenen Alterskategorien ergab mit zunehmendem Alter einen Vorteil für höhere systolische Werte: Der Nadir (Tiefpunkt zwischen dem Risiko und der Höhe von Messwerten) für den kombinierten kardiovaskulären Endpunkt lag bei den 60- bis 69-Jährigen bei 115/75 mmHg, bei den 70- bis 79-Jährigen bei 131/75 mmHg und bei den über 80-Jährigen bei 140/70 mmHg. Während sich für den systolischen Druck nur für die über 70-Jährigen eine Zunahme des Risikos für Werte unter 130 mmHg zeigte, bestand bei allen Altersgruppen eine J-förmige Beziehung des diastolischen Drucks mit häufigeren Komplikationen bei Werten unter 60 bis 70 mmHg. Bei revaskularisierten Patienten verlief die diastolische J-Kurve flacher.

 

Wie sieht es hinsichtlich Herzinfarkt-Risiko aus?
Die ONTARGET-Studie zeigte eine Zunahme von Herzinfarkten und der kardiovaskulären Mortalität, wenn der durchschnittliche Blutdruck während der Studie unter 120 systolisch betrug. In einer rezenten Nachanalyse der LIFE-Studie bei Patienten mit Linkshypertrophie zeigten sich mehr Herzinfarkte und kombinierte primäre Endpunkte sowie (im Unterschied zu ONTARGET) auch mehr Schlaganfälle, wenn der Druck unter 130 mmHg gesenkt wurde im Vergleich zu einer Senkung auf 131–141 mmHg. Unterhalb von 140 mmHg fand sich mit Abnahme des systolischen Drucks eine progressive Zunahme des Risikos für die Gesamtmortalität (Okin P. M., J Hypertension 2012).
In der PROVE-IT-Studie erwies sich bei Patienten nach akutem Koronarsyndrom ein Blutdruck von 136/85 mmHg als am günstigsten, bei dem sich eine sehr flache Relation zu weiteren Ereignissen zwischen Druckwerten von 110 und 140 mmHg systolisch und 70 bis 90 mmHg diastolisch zeigte. Nahezu identische Befunde ließen sich in der TNT-Studie nachweisen: Wenn der Blutdruck über oder unter dem optimalen Wert von 146/84 mmHg lag, traten im Verlauf von 5 Jahren diverse kardiovaskuläre Folgeerkrankungen häufiger auf und die kardiovaskuläre Mortalität war erhöht.
In der heuer publizierten „Secondary Manifestations of Arterial Disease“-Studie mit 5.788 Patienten mit symptomatischen Gefäßerkrankungen fand sich nach multipler kovariater Adjustierung ein Blutdrucknadir von 143/82 mmHg. Während des durchschnittlich 5 Jahre dauernden Follow-ups traten kardiovaskuläre Ereignisse gehäuft auf, wenn der Blutdruck ober- oder unterhalb dieses Nadirs lag (Dorresteijn J., Hypertension 2012; 59:14). Bei den über 65-Jährigen war die Gesamtmortalität erhöht, wenn der systolische Druck < 120 oder der diastolische < 70 mmHg betrug.

 

Für Diabetiker gelten derzeit ebenfalls niedrigere Blutdruck-Zielwerte als für Personen ohne Risikofaktor …
Rezente Studien zur Blutdrucksenkung bei Typ-2-Diabetikern haben keinen Vorteil für Werte < 130 mmHg systolisch im Vergleich zu Werten zwischen 140 und 130 mmHg erkennen lassen; einzige Ausnahme ist hier das Schlaganfallrisiko. Die Senkung unter 120 mmHg systolisch zeigte jedoch in 4 Studien eine erhöhte kardiovaskuläre Morbidität bzw. Mortalität. Übereinstimmend damit wurde in einer Registerstudie aus Schweden mit über 12.000 antihypertensiv behandelten Diabetikern im Alter von 30–75 Jahren im Verlauf von 5 Jahren kein Vorteil einer Senkung des systolischen Blutdrucks auf 110 bis 129 mmHg gegenüber einer Senkung auf 130–139 mmHg gefunden. Wurde der Druck bei Ausgangswerten von 110 bis 129 mmHg weiter gesenkt, erhöhte sich das Risiko für kardiovaskuläre Komplikationen. Analysen bezüglich allfälliger Risiken einer zu starken diastolischen Drucksenkung sind mir bei Diabetikern nicht bekannt.

 

Wurden diese Effekte auch bei Patienten mit Nierenerkrankungen beobachtet?
Zu diesem Patientenkollektiv möchte ich keine Aussage treffen, weil die Datenlage dafür aufgrund von Studien mit kleinen Fallzahlen und/oder kurzem Beobachtungszeitraum bzw. einer Datengewinnung aus Post-hoc-Analysen nicht ausreichend ist.

 

Sie haben in Ihren Ausführungen bereits das Kollektiv der alten Menschen im Zusammenhang mit einer Komorbidität angesprochen. Spielt das Alter per se eine Rolle für die Festlegung des Blutdruck-Zielwerts?
In einer Metaanalyse von 7 Therapiestudien mit etwa 40.000 älteren, aber vorwiegend unter 80 Jahre alten Hypertonikern wurde eine J-förmige Beziehung zwischen diastolischem und systolischem Druck und der gesamten sowie der kardiovaskulären Mortalität festgestellt. Bei systolischen Werten < 120 mmHg und diastolischen Werten < 65 mmHg war das Risiko für kardiovaskuläre Mortalität erhöht.
In der speziell mit über 80-jährigen Personen durchgeführten HYVET-Studie wurde bei systolischen Druckwerten unter 140 mmHg ein Trend zu einer höheren Gesamtmortalität festgestellt. Die Ergebnisse einer rezente Metaanalyse der randomisierten, kontrollierten Studien mit über 80-Jährigen (Journal Hypertension 2010; 28:1366) lassen darauf schließen, dass eine mäßige Drucksenkung (um 10 mmHg systolisch) für das Überleben günstiger ist als eine ausgeprägte (mehr als 20 mmHg). Dem stehen die Erkenntnisse aus nahezu allen epidemiologischen Untersuchungen gegenüber, die dafür sprechen, dass bei über 80- bzw. 85-Jährigen systolische Druckwerte unter 140 mmHg eine ungünstige Prognose aufweisen – und zwar unabhängig davon, ob sie eine antihypertensive Therapie erhalten.

 

Welches Fazit ziehen Sie daraus für die Praxis der Blutdrucksenkung?
Insgesamt gibt es eine große Menge an Daten, die Nachteile für eine zu starke Blutdrucksenkung vermuten lassen. Trotzdem konnte der letzte, schlüssige Beweis für ein erhöhtes Risiko trotz aller Versuche, methodische Fehler in den Studien mithilfe unterschiedlicher statistischer Verfahren zu bereinigen, noch nicht erbracht werden. Außerdem dürfen die Daten keinesfalls Anlass für einen therapeutischen Nihilismus bieten. Derzeit sollte das Fazit lauten, dass die Senkung eines chronisch erhöhten Blutdrucks unwiderlegbar alle kardiovaskulären Risiken senkt – gleichzeitig sollte berücksichtigt werden, dass der therapeutische Vorteil bei zunehmender Annäherung an die „Normalwerte“ immer kleiner wird und bei einer immer weiteren Senkung schließlich sogar zu einem Risiko werden kann.

 

Vielen Dank für das Gespräch!