Myelodysplastische Syndrome

Kontext: Myelodysplastische Syndrome (MDS) sind eine heterogene Gruppe von myeloischen Stammzellerkrankungen. Nach jahrelangem therapeutischen Nihilismus gewinnt diese Krankheitsgruppe zunehmend an Interesse, da die theoretischen Erkenntnisse zur Pathophysiologie in Therapieerfolge umgesetzt werden können. Es konnten sowohl für Low-Risk- als auch für High-Risk-Patienten mannigfaltige, auch zielgerichtete Therapieoptionen etabliert werden, wobei im Niedrigrisiko-Bereich die Blutbildverbesserung, im Hochrisikobereich die Beeinflussung der Krankheitsbiologie im Vordergrund steht, was idealerweise für beide Risikogruppen einen signifikanten Überlebensvorteil bringen soll. Neuerungen finden sich im Bereich der supportiven Behandlungsmöglichkeiten, bei den chemotherapeutischen Optionen und auch bei den zielgerichteten Therapien.

Eisenchelation

Der Eisenstoffwechsel hat bei MDS in letzter Zeit zunehmend Beachtung gefunden. Einerseits konnten pathophysiologische Zusammenhänge aufgeklärt werden, die Rolle der Transfusionsabhängigkeit für die Prognose wurde etabliert sowie die prognostische Bedeutung der Eisenüberladung bestätigt. Andererseits steht mit Deferasirox nunmehr ein oraler Eisenchelator zur Verfügung, der eine therapeutische Intervention ermöglicht (die bisherige Therapie mit Desferoxamin war für die meisten MDS-Patienten vor allem wegen Komorbiditäten nicht in Frage gekommen). Die am ASH präsentierte EPIC-Studie stellt die bisher größte prospektive Chelationsstudie dar: In die MDS-Substudie wurden 341 Patienten rekrutiert, bezeichnenderweise hatten von diesen trotz hoher initialer Eisenbelastung 48% keine Chelationsvortherapie.
Die Studie bestätigte die guten Ergebnisse der Zulassungsstudie und zeigte, dass eine effektive Reduktion der Ferritinwerte sowie eine Normalisierung der toxischen labilen Plasma-Eisenspiegel bei generell guter Verträglichkeit der Substanz möglich sind.
Patienten mit Niedrigrisko-MDS (und entsprechender Lebenserwartung) mit Eisenüberladung und/oder Transfusionslast sollten chelatiert werden, aber auch Transplantkandidaten.

Thrombopoetische Wachstumsfaktoren

Die Zweitgenerations-TPO-Rezeptor-Agonisten und -Liganden haben in anderen Indikationen wie idiopathische Thrombozytopenie oder Hepatitis-assoziierte Thrombozytopenie beeindruckende Daten geliefert und in diesen Indikationen zur Zulassung geführt.
Naturgemäß sind diese auch in der Indikation MDS interessant und werden in Studien geprüft. Phase-I/II-Daten vom MD Anderson Cancer Center mit Romiplostim (Nplate®) bei Low-Risk-MDS haben eine Responserate von ca. 60% ergeben, für die endgültige Bewertung der Sicherheit sind weitere Daten abzuwarten. Von großem Interesse werden auch Kombinationen mit zielgerichteten Therapien (mit potenzieller Hämatotoxizität) wie Lenalidomid (Revlimid®) und 5-Azacytidin (Vidaza®) sein. Hier wurden zuletzt am ASH erste sehr vielversprechende Ergebnisse präsentiert. Für Eltrombopag (Revolade®) beginnt eine Phase-I/II-Studie für Hochrisiko-MDS, für diese Substanz liegen In-vitro-Daten vor, die auch eine Hemmung des Wachstums von AML-Zelllinien beschreiben.

Immunmodulatory Drugs (IMIDS)

Immunmodulierende Substanzen entfalten ihre Wirkung auf die Hämatopoese über komplexe, gleichzeitig ablaufende Mechanismen.
Während Thalidomid bei MDS geprüft wurde, aber sich vor allem wegen der (Neuro-)Toxizität nicht etablieren konnte, wurde die Nachfolgesubstanz Lenalidomid weiterentwickelt. Der Grund lag im exzellenten Ansprechen der ersten Patienten: Unter Therapie wurden nicht nur Verbesserungen der Blutbildung beobachtet, sondern auch komplette Remissionen, darunter sogar komplette zytogenetische Remissionen, vor allem bei Patienten mit isolierter Deletion am langen Arm des Chromosom 5. Die im “New England Journal” publizierten Phase-II-Daten bei Niedrigrisiko-MDS und Anämie sowie die hohe Rate an zytogenetischen Remissionen (bis zu 75% bei isolierter Deletion 5q) haben zur Zulassung durch die FDA geführt. Eine an einem europäischen Prüfzentrum der Studie beobachtete höhere Transformationsrate bei Patienten mit del 5(q) hat jedoch zu einer vorläufigen Unterbrechung des EMEA-Zulassungsverfahrens geführt.
Am ASH 2009 wurden erstmals die Resultate der prospektiv-randomisierten, placebokontrollierten 3-armigen Phase-III-Studie präsentiert. Verglichen wurde 5 mg tgl. mit 10 mg Tag 1-21 (Wiederholung Tag 29) und Placebo; die Studiendauer betrug 16 Wochen und primärer Studienendpunkt war die Transfusionsunabhängigkeit für mehr als ein halbes Jahr – wobei die ermutigenden Ergebnisse der Phase-II-Studie im Wesentlichen bestätigt werden konnten. Der 10-mg-Arm wies die besten Ergebnisse auf, auch zeigte sich in keinem der experimentellen Arme eine erhöhte AML-Übergangsrate (Details Tab.). Daher ist auf eine rasche EMEA-Zulassung zu hoffen. Auch bei Patienten mit Low-Risk-MDS ohne del 5(q) konnte bei bis zu einem Drittel der Patienten eine Transfusionsunabhängigkeit erzielt werden.
Dies wird zurzeit in einer internationalen Phase-III-Studie (MDS-005) im randomisierten Setting geprüft.

Tab.: Lenalidomid bei MDS: Ergebnisse der prospektiv-randomisierten, placebokontrollierten Phase-III-Studie; primärer Studienendpunkt: Transfusionsunabhängigkeit für mehr als 6 Monate

Wirksamkeit

Placebo
(n = 51)

 LEN 5 mg

 LEN 10 mg
(n = 41)

Transfusionsunabhängigkeit (TI)
(≥ 26 Wochen), n (%)

 3 (6)

 19 (41)*

 23 (56)*

Mediane Zeit zur TI (≥ 26 wks), Wochen (Range)

0,3 (0,3-24,1)

3,3 (0,3-12,3)

4,3 (0,3-14,7)

Mediane Ansprechdauer, Wochen

 nicht erreicht

 110

Medianer maximaler Hämoglobinanstieg, g/dl

2,3

5,1**

6,3***

Komplette und partielle CyR, n (%)

 0 (0)

 8 (17)*

 17 (41)*

Komplette CyR, n (%)

 0 (0)

 5 (11)***

 10 (24)*

AML-Übergang, %

 9

 10

 7

* p < 0,001 vs. Placebo; ** p < 0,05 vs. Placebo; *** p = 0,01 vs. Placebo

Epigenetische Therapien

Epigenetische Veränderungen spielen für die Pathogenese von MDS eine bedeutende Rolle. Die Unterdrückung der Transkription von Tumorsuppressorgenen durch “epigenetic silencing” kann bedeutend zur Entwicklung des MDS-Phänotyps beitragen. Hauptmechanismen, die als Target für Therapien in Frage kommen, sind DNA-Methylierung und Histondeazetylierung.

Demethylierende Substanzen

5-Azacytidin hat bereits 2004 auf Grund von CALGB-Studien die FDA-Zulassung zur Behandlung von MDS erhalten. Eine zusätzliche von der EMEA geforderte Studie in Higher- Risk-MDS (Aza 001) hat nunmehr ebenfalls positive Ergebnisse erbracht, wurde in “Lancet Oncology” publiziert und hat zur europäischen Zulassung dieser Substanz geführt. In der Aza-001-Studie wurde gegen konventionelle Therapie (nach Wahl des Arztes “best supportive care”, Low-Dose-AraC oder AML-Induktionstherapie ) randomisiert, in der “Intention to treat”-Analyse fand sich ein Vorteil im Gesamtüberleben von median 24 versus 15 Monaten. Die Trennung der Kurven im Kaplan-Meier-Plot erfolgt nach 100 Tagen, entsprechend etwa 3 Zyklen – d. h. eine Response ist erst nach einigen Therapiezyklen zu erwarten, wobei sich die Responsequalität nach weiteren Therapiezyklen noch verbessern kann. 95% der respondierenden Patienten sprachen bis zum 6. Zyklus an. Der Überlebensvorteil zeigte sich nicht nur bei Patienten mit Vollremission, sondern auch bei lediglich “hematologic improvement” (nach IWG-Responsekriterien).
Interessanterweise profitierten auch Patienten mit schlechten Prognosefaktoren wie schlechter Zytogenetik von dieser Substanz, die diesen Patienten erstmals eine therapeutische Option bietet. Bis zum Einlangen neuerer Daten sollte das Dosierungsschema der Zulassungsstudie verwendet werden (75 mg/m2 d1-7 alle 4 Wochen). Die bisherigen Ergebnisse mit Azacytidin führen natürlich zu einer Weiterentwicklung dieser Substanz (u. a. orale Formulierung), laufende Studien, die zum Teil bei Tagungen bereits vorgestellt wurden, betreffen Erhaltungstherapie nach konventioneller Chemotherapie, Einsatz bei akuten Leukämien (randomisierte Studie in Planung), Einsatz peri/post Transplantation sowie Kombinationstherapien (mit Lenalidomid, Romiplostim und Vorinostat).

Histondeazetylase-Inhibitoren

Zur Valproinsäure, die als erste Substanz dieser Indikationsgruppe getestet wurde, liegen nur Phase-II-Daten mit kleinen Fallzahlen vor, in denen mittels verschiedener Dosierungsschemata und in Kombinationen z. B. mit ATRA über Gesamtresponseraten bis zu 30% berichtet wurde. Die Toxizität, vor allem Somnolenz und Verwirrtheitszustände, hat den Einsatz dieser Substanz beschränkt, aber das “Proof of Principle” für die Histondeazetylase-(HDAC)-Hemmer erbracht. Große Hoffnungen werden nun in eine Reihe von Folgesubstanzen gesetzt: Vorinostat als Paninhibitor mehrerer Klassen von HDACs ist am weitesten entwickelt. Kombinationen demethylierender Substanzen mit HDAC-Inhibitoren bieten sich an. Dabei ist – um eine gegenseitige Hemmung zu verhindern – ein genaues Scheduling erforderlich, und es zeichnet sich ab, dass zuerst die Demethylierung und anschließend die HDAC-Hemmung erfolgen muss.
Frühe Phase-II-Daten aus New York zeigen in einer definierten Sequenz aus Azacytidin mit Vorinostat (1 Tag überlappende Gabe) überraschend hohe Responseraten (ORR 82%), die in anderen Schemata nicht nachvollziehbar sind. Entsprechende Phase-III-Studien sind in Planung (Azacytidin vs. Azacytidin/Vorinostat).

Chemotherapie

Für die Chemotherapie wird experimentell vor allem Clofarabin (Evoltra®) propagiert, für das mittlerweile eine orale Formulierung existiert. Die optimale Dosierung, auch in Hinblick auf eine beträchtliche Toxizität (Hämato- und Nephrotoxizität), wurde in den Phase-II-Studien bisher jedoch nicht eindeutig definiert.

FACT-BOX

Die therapeutischen Optionen bei PatientInnen mit MDS nehmen dank intensiver präklinischer und klinischer Forschung rasant zu. Es ist zu hoffen, dass in naher Zukunft für die meisten Subgruppen dieses heterogenen Krankheitsbildes zugelassene zielgerichtete Therapien zur Verfügung stehen werden. Eine große Herausforderung wird darin liegen, die idealen therapeutischen Kombinationspartner für die unterschiedlichen Risikogruppen dieses heterogenen und aufgrund der steigenden Lebenserwartung an Häufigkeit zunehmenden Krankheitsbildes zu identifizieren.

OA Dr. Thomas Nösslinger
3. Medizinische Abteilung für Hämatologie und Onkologie, Hanusch-Krankenhaus, Wien